Glosse:Instinkte aus der Kreidezeit

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Den Hamburger SV möchte man am liebsten nicht mehr "Dinosaurier" nennen. Aber was soll man machen, wenn er doch einer ist?

Von Christof Kneer

Waren die Vulkane schuld? War es ein Meteoriten-Einschlag? Sind die Meeresspiegel gesunken, wurde der Regen sauer oder haben die Dinos einfach zu viele Fußballspiele vom HSV gesehen? Fest steht, dass es einen Grund gegeben haben muss, warum sich die Dinosaurier vor zirka 65 Millionen Jahren von der Erde verabschiedet haben. Zweifelsfrei belegt ist inzwischen allerdings auch, dass ein Dinosaurier geblieben ist: der HSV, den man wegen des nachgewiesenen Überdrusses an diesem Begriff eigentlich überhaupt nicht mehr "Dino" nennen möchte. Aber was soll man machen, wenn er doch einer ist?

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sind sie am Montagabend ihrem Bildungsauftrag tatsächlich nachgekommen, es war eine beeindruckende Dokumentation: diese mehr als zweistündige Sendung über dieses riesenhafte Urviech, das gegen Ende der Übertragung doch noch durchs Nadelöhr geht.

Der HSV ist eine historische Kreatur, und das liegt nur zum Teil daran, dass er nach dem Relegations-Erfolg gegen den KSC auch im 53. Jahr der Bundesliga das einzige Gründungsmitglied sein wird, das nie abgestiegen ist. Historisch ist am Hamburger SV vor allem, dass er seit zwei Jahren fast ununterbrochen einen Original-Fußball aus der Kreidezeit vorführt. Für alle, die's wissenschaftlich nicht so drauf haben: Die Kreidezeit ist schon etwas her, sie endete ein paar Millionen Jahre vor der Rumpelzeit, an die sich die Älteren im deutschen Fußball vielleicht noch erinnern können.

Der gesamte HSV hat in dieser Saison nur sechs Tore mehr erzielt (25) als der wochenlang verletzte Frankfurter Alex Meier (ein Torjäger-Dino), und wer großzügig zählt, dürfte auch etwa auf sechs gelungene Spielzüge kommen. Für verdient halten diesen Klassenerhalt vor allem Fans des HSV sowie Anhänger der Dino-Branche, dem neutralen Beobachter fallen dagegen weniger Gründe ein, warum das Resultat unglaublicher Hamburger Versäumnisse ein Abstieg von Freiburg und Paderborn sein soll.

Eines aber spricht für den HSV: Er hat wie schon vorige Saison ein Beharrungsvermögen gezeigt, das eines Dinos würdig ist. Dieser Überlebenswillen ist anerkennenswert und ein Wert an sich, er hat etwas Magisches, weil er mit Menschenlogik nicht zu erklären ist. Mit der Kraft seiner Geschichte hat der HSV seine Gegner aus Mainz und Hannover so fasziniert, dass sie wunderschöne Eigentore geschossen haben, und ein paar Sekunden vor dem vermeintlichen Exitus in Karlsruhe hat sich der Dino von einem Sterblichen noch einen wunderbaren Freistoß hinpfeifen lassen, den er zum überlebenswichtigen Torerfolg nutzte.

Der Dino hat in dieser Saison wieder eine hohe Zahl an Menschen verschlissen, erst Bruno Labbadia ist es gelungen, die Ur-Instinkte dieses Viechs gerade noch rechtzeitig zu wecken. Man darf gespannt sein, was diese glückliche Erweckung mit dem letzten Dino macht: ob sie zur Geburtsstunde eines neuen HSV werden kann - oder ob das Aussterben des trägen Monsters nur aufgeschoben ist, bis zur nächsten Relegation, gegen Freiburg oder Paderborn.

© SZ vom 03.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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