Gewichtheber-EM 2008:Antidepressivum aus Eisen

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Gewichtheber Matthias Steiner versucht, einen Schicksalsschlag zu überwinden. Die EM betrachtet der gebürtige Österreicher als Zwischenstation - und bekommt dabei Hilfe von einem Engel.

Thomas Hahn

Da ist noch dieser Engel. Von Zeit zu Zeit flattert er ihm durch den Kopf, und obwohl der Gewichtheber Matthias Steiner weiß, dass dieser Engel nicht echt ist, lässt er ihn wirken. Dann ist es für einen Augenblick so, als sei Susann noch da und der Unfall im Sommer nie geschehen. Matthias Steiner sagt, dass er Realist sei, aber irgendwas zum Festhalten braucht man ja in der Not, und dieser Engel mit den Zügen seiner tödlich verunglückten Frau hilft ihm. Neulich zum Beispiel, beim Bundesliga-Finale in Obrigheim, das sein Chemnitzer AC knapp gegen Gastgeber Germania verlor.

(Foto: Foto: AFP)

Da lag jede Menge Eisen auf, 195 Kilo im Reißen, nachdem er 194 hatte fallen lassen. "Ich habe mir gedacht, das kann doch nicht sein, dass ich das nicht reißen kann. Hab' an sie gedacht. Und dann ging's." Da steht nun der Koloss, ein Muskelmann von 142 Kilo, und erzählt mit dumpfer Bärenstimme von seiner eigenen kleinen Hilfsreligion. "Glauben kann ich es nicht, dass sie irgendwo zuguckt", brummt er tapfer, "aber ich denke mir's vielleicht doch. Insgeheim hofft man doch."

Der Stolz Österreichs

Matthias Steiner, 25, ist die neue große Hoffnung des Bundesverbandes Deutscher Gewichtheber (BVDG). Am Sonntag tritt er bei der EM in Lignano an, aber das ist nur eine Etappe. Steiner ist die leibhaftige Medaillenchance des BVDG für Olympia in Peking, weshalb Bundestrainer Frank Mantek ihn sorgfältig hegt, seitdem Steiner vor bald drei Jahren nach Deutschland kam. "Ein außergewöhnliches Talent" nennt Mantek den jungen Herkules, "unser Zugpferd", und er ist sehr stolz darauf, dass sein Verband nach den längst abgedankten Medaillen-Gewinnern Manfred Nerlinger und Ronny Weller wieder einen echten Könner in der Königsklasse Superschwergewicht aufbieten kann. Auch wenn Matthias Steiner nicht gerade ein Eigengewächs ist.

Denn Steiner stammt aus Obersulz in Niederösterreich, wurde im Schülercup des Österreichischen Gewichtheber-Verbandes entdeckt, hob für Woge Bregenz und wurde als Österreicher 2004 Olympia-Siebter im Schwergewicht. Erst seit 2.Januar hat er einen deutschen Pass. Deutschlands Stolz im Dopingsport Gewichtheben ist ein Sohn des alpenländischen Nachbarlandes, das sich über die Jahre einen Ruf als Dorado der Leistungsmanipulation erworben hat - da hebt nicht gleich jeder begeistert die Tassen.

"Man muss das System ändern"

Immerhin, Steiners wichtigster Förderer soll zumindest als Trainer ein strenger Saubermann sein. Maged Salama aus Ägypten, einst Bundesliga-Heber für den AC Mutterstadt, damals Österreichs Nationaltrainer, war einer der Gründe für Steiners Republik-Flucht. Der Verband wollte Salamas finanzielle Forderungen nicht erfüllen, da sah der Hochbegabte keine Perspektive mehr und folgte seiner Liebe Susann nach Deutschland.

Zuletzt hat Salama in Indien für Schlagzeilen gesorgt, wohin ihn der Weltverband IWF als Trainer der Nationalmannschaft entsandt hatte. Salama legte seinen Job dort nach nur sechs Monaten nieder. Grund: zu viel Doping unter Indiens Spitzenhebern. Vor allem soll Salama erzürnt haben, dass die Frauen im Team die gleichen Testosteron-Werte hatten wie die Männer. Und der Zeitung The Hindu sagte er über die Situation der Heber in Indien: "Man muss das System ändern, das Heber zum systematischen Doping anstiftet."

Auf der nächsten Seite: Extreme Hungerkuren und ein Engel als Fan.

Matthias Steiner selbst hat seine Antidoping-Haltung zuletzt in die Forderung gekleidet, alle Trainer zu sperren, deren Athleten positiv getestet worden seien. "Denn die Athleten kommen ja über den Trainer an den Stoff." Es war seine Reaktion auf den Fall von Massendoping im griechischen Nationalteam mit elf positiven Tests von 14 Athleten. "Das sind sehr mafiöse Verstrickungen", sagt Steiner. Allerdings hat er auch noch etwas anderes zu erzählen.

Von dieser Perversion seines Sports zum Beispiel, für den er bei Olympia 2004 sein Gewicht mit extremen Hungerkuren auf 105 Kilo zwang, um im Schwergewicht starten zu dürfen. "Vor Athen habe ich Wassermelonen gegessen und ein Gatorade getrunken, das war's", sagt er. Oder er kann von seiner angeborenen Zuckerkrankheit erzählen, die ihm ein strenges Bewusstsein für Ernährung und Hormonhaushalt abverlangt. "Ich muss als Diabetiker aufpassen, dass ich nicht zu viel Fett zu mir nehme. Die Fettverbrennung ist viel schlechter als beim Normalsterblichen. Durch das künstliche Insulin funktioniert das nicht so reibungslos." Und dann war da ja noch die Katastrophe.

Der Engel ist sein Fan

Es war ein Autounfall im Juli 2007. Susann Steiner war auf dem Weg von Heidelberg nach Leimen gewesen, wo das Paar eine Wohnung nahe der BVDG-Zentrale hatte. Man kann ihn das nicht nacherzählen lassen. Die Tragödie klingt ohnehin immer wieder an, wenn er aus seinem Sportlerleben erzählt. Matthias Steiner neigt nicht zum Pathos, seine Trauer verbirgt er mittlerweile hinter der Erkenntnis, dass es weitergehen muss. Ob er sich daran gewöhnt hat, als deutsche Hoffnung herumgereicht zu werden? "Das erleichtert die Geschichte vom letzten Jahr unheimlich", sagt er, "Wenn man weiß, dass man gebraucht wird. Das ist ein unheimlich gutes Antidepressivum."

Aus einer großen Leere ist er damals in den Sport zurückgekommen. Drei Wochen nach Susanns Tod kam Mantek zu ihm und fragte: "Willst du nach Peking? Du kannst auch nein sagen. Aber wenn du ja sagst, müssen wir trainieren." Seitdem trainiert Matthias Steiner wieder. "Sie wollte das immer", sagt er, "die wollte mit nach Peking. Die ist zu jedem Wettkampf mitgefahren."

Er klingt trotzig und entschlossen. Als habe das Heben für ihn nun einen höheren Sinn neben all den irdischen Fragen, um die der schwatzhafte Sportbetrieb ohne Pause kreist. Die Leute sollen denken über ihn, was sie wollen. Sein größter Fan ist ein Engel. Daran glaubt Matthias Steiner jetzt einfach, wenn er besonders stark sein soll.

© SZ vom 18.04.2008/mb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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