Froome gewinnt die Tour:"Ich dachte wirklich, es läuft aus dem Ruder"

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Der Vorsprung des Briten auf Quintana schmilzt zwar auf dem Weg nach Alpe d'Huez, aber er wird heute auf den Champs-Élysées triumphieren.

Von Johannes Aumüller

Eine große blaue Tür geht auf, Christopher Froome kommt hinein, und er sieht sehr verändert aus im Vergleich zu den vielen vergangenen Tagen, in denen er sich nach einer Etappe vor die Presse gesetzt hat. Seine Haare sind noch immer kurz geschoren, mit diesen markanten Geheimratsecken, er schaut immer noch so forsch mit leicht geöffnetem Mund in die Runde. Aber um seinen Oberkörper trägt er nicht mehr das Gelbe Trikot, sondern das normale Rennhemd seiner Sky-Mannschaft. So sieht er nicht aus wie der Patron der Tour, sondern eher wie ein ganz normaler Vertreter des Pelotons.

Christopher Froome, 30, ist aber doch in seiner Funktion als Gesamtsieger der 102. Frankreich-Rundfahrt gekommen, er hat das Gelbe Trikot hinauf nach Alpe d'Huez nicht mehr verloren. Er hat es verteidigt, sehr knapp vor seinem engsten Rivalen Nairo Quintana. "Was kann ich sagen", sagte er nach seinem zweiten Toursieg: "Es ist überwältigend."

Als er kolumbianische Flaggen sieht, tritt Quintana richtig an

Der Brite hat eine bemerkenswerte Tour hinter sich - und eine bemerkenswerte Schlussetappe. Die 21 mythischen Kehren nach Alpe d'Huez hatten die Organisatoren an den letzten echten Renntag gesetzt, ehe die Tour am Sonntag mit dem gemütlichen Ausfahren auf den Champs-Elysees zu Ende geht. Und Quintana attackierte bei jeder Gelegenheit. Das erste Mal versuchte er es schon am Col de la Croix de Fer, Alejandro Valverde assistierte. Doch mehr als ein paar Sekunden kamen sie nicht weg, und auf dem Gipfel hatte Froome die beiden wieder. Am Fuße von Alpe d'Huez trat der Kolumbianer ein paar Mal an, zirka acht Kilometer vor dem Ziel war er weg - und es begann ein wahrhaft dramatischer Kampf durch diesen manchmal beängstigend engen Spalt, den die Fans den Fahrern in der Straßenmitte noch ließen.

Mit 2:38 Minuten Vorsprung war Froome in diese Etappe gegangen. Sieben Kilometer vor dem Ziel waren es virtuell noch 2:21 Minuten. Sechs Kilometer vor dem Ziel noch 2:08 Minuten. Fünf Kilometer davor 2:03 Minuten. Und als Quintana am Straßenrand eine Vielzahl kolumbianischer Flaggen sah, da überholte er seine treue Zugmaschine Winner Anacona und trat noch einmal richtig an, während Froome hinten sichtlich litt und Mühe hatte, das Tempo seiner Teamkameraden zu halten.

Schwere Etappe für den Briten Chris Froome. (Foto: Bryn Lennon/Getty)

Vier Kilometer vor dem Ziel waren es noch 1:44 Minuten. Drei Kilometer davor: 1:36 Minuten. Zwei Kilometer: 1:18 Minuten. Noch einer und noch 1:11 Minute Differenz. Quintana sah immer noch deutlich besser aus als Froome, der irgendwann seinen letzten Helfer verließ und alleine ran musste. Aber die Strecke war für den Kolumbianer zu kurz. Fast 90 Sekunden verlor Froome am Ende, 1:12 Minute Vorsprung blieb ihm noch. "Manchmal habe ich wirklich gedacht, dass das hier aus dem Ruder läuft", sagte Froome später. "Da habe ich wirklich gedacht, dass das eng wird."

Es hat schon knappere Tour-Ausgänge gegeben, legendär sind die acht Sekunden Differenz zwischen Gewinner Greg LeMond und Laurent Fignon 1989. Aber so eng wie diesmal waren die Abstände an der Spitze seit 2010 nicht mehr, als Alberto Contador mit 38 Sekunden vor Andy Schleck gewann (und später wegen Dopings den Sieg aberkannt bekam).

Ob dieser Sieg wegen all der Begleitumstände mehr zähle als der 2013, ist Froome gefragt worden. Er hat sich in den vergangenen Tagen ja schon so dargestellt, als fühle er sich als Verfolgter. Nicht nur und nicht so sehr von Quintana, sondern von der Öffentlichkeit.

Aus Fragen werden Zweifel werden Vorwürfe

Die Öffentlichkeit stellt Fragen zu Froomes Leistungen und bekommt dazu keine befriedigenden Antworten von Sky, aus Fragen werden bisweilen Zweifel, und aus Zweifeln bisweilen Vorwürfe. Manchmal tun sie bei Sky so, als treffe das nur sie; aber das stimmt nicht. Als Vincenzo Nibali im vergangenen Jahr die Tour gewann, da thematisierte die Öffentlichkeit auch nachdrücklich das einschlägig vorbelastete Personal aus dessen Astana-Equipe. Auch bei Nairo Quintanas Leistungen schaut die Szene kritisch auf sein Movistar-Umfeld und wundert sich, dass dieser zwar sagt, er habe kein Problem, seine Leistungsdaten zu veröffentlichen, es bisher aber nicht macht. Bei Sky aber kommt erschwerend hinzu, dass sie a) nun mal drei der vier vergangenen Tour-Auflagen gewannen, eine durch Bradley Wiggins, zwei durch Froome. Und b), dass sie selbst immer stolz auf ihre Null-Toleranz-Politik verweisen - gegen die sie aber ab und an verstoßen.

Es ist im Rückblick bemerkenswert, wie sich Froome den Vorsprung auf Quintana herausgearbeitet hat. Beim Einzelzeitfahren zum Auftakt in Utrecht war er elf Sekunden schneller. Im Windkantenrennen an der niederländischen Küste hielt sich Froome in der Spitzengruppe, während Quintana den Anschluss und 1:28 Minuten verlor. An der Mauer von Huy sprintete er gemeinsam mit Tagessieger Joaquim Rodriguez hoch und machte 17 Sekunden gut. Beim Teamzeitfahren holte Froomes Sky-Mannschaft drei Sekunden gegenüber Quintanas Movistar-Truppe heraus. Dann kam diese erste Pyrenäenetappe, als Froome so unwiderstehlich den Col de Soudet hochfuhr und inklusive Zeitgutschrift 1:10 Minuten gutmachte - schon drei Wochen vor der Tour habe er sich diesen Anstieg als seinen Tag der großen Attacke ausgesucht, sagte Froome nun. Auf dem Flughafen in Mende folgte noch eine Sekunde.

Die erste Woche hat die Tour entschieden

Auf den beiden letzten schweren Bergetappen in den Alpen hingegen verlor Froome Zeit. Auf dem Abschnitt über vier Anstiege nach La Toussuire am Freitag waren es 30 Sekunden, aber das war im Rahmen und kein Problem; am Samstag nach Alpe d'Huez noch einmal deutlich mehr.

Wer es ein bisschen zugespitzt mag, kann also sagen: Die erste Woche, als das Feld noch gar nicht in den Bergen war, hat diese Tour entschieden. Der Schlüssel war diesmal Konstanz.

Christopher Froome ist eine über weite Strecken erstaunliche Tour gefahren. Er hatte ein starkes Team bei sich, das viel kontrollierte; in den Pyrenäen dominierten sie wie früher US Postal, in den Alpen war zumindest einer seiner Kollegen fast immer bei ihm, mal Richie Porte, mal Wouter Poels, meist Geraint Thomas. Und Froome verfiel bis zur letzten Etappe kein einziges Mal in Panik. Wenn ihn Quintana oder ein anderer gefährlicher Konkurrent attackierte, was durchaus des Öfteren vorkam, blieb er in der Regel einfach sitzen. Entweder ließ er seine Mannschaftskollegen das Loch zufahren oder erhöhte selbst das Tempo, den Blick ganz oft nach unten gerichtet auf seinen Fahrradcomputer, bis er wieder dran war.

Nur die Attacke am Schlusstag, die konnte er nicht mehr kontern. Aber es reichte trotzdem für seinen zweiten Tour-Erfolg nach 2013.

© SZ vom 26.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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