Fitness-Coach:"Die Trainer müssen lernen loszulassen"

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Oliver Schmidtlein im Interview über die Saisonvorbereitung, die Arbeit mit Jogi Löw und die Passgeschwindigkeit von Steven Gerrard.

Moritz Kielbassa und Christof Kneer

Wenn der FC Bayern an diesem Freitag das Training aufnimmt, wird Oliver Schmidtlein, 42, fehlen. Der Fitnesstrainer und Physiotherapeut der deutschen Nationalelf war seit 2002 auch bei den Münchnern angestellt. Jetzt sind beim FC Bayern neue Spezialisten tätig: die Fitnesstrainer Zvonko Komes und Thomas Wilhelmi sowie der Trainingswissenschaftler Riccardo Proietti. Schmidtlein, der bei der WM 2006 im Team des US-Amerikaners Mark Verstegen mit neuartigen Trainingsmethoden für Aufsehen sorgte, macht sich nun als Fitnesscoach und Therapeut selbständig. Seine Nachfolger Wilhelmi und Proietti hat er dem FC Bayern selbst empfohlen.

Einer redet, fünf hören zu: Oliver Schmidtlein (in rot) beim Training mit der Nationalmannschaft. (Foto: Foto: ddp)

SZ: Herr Schmidtlein, ständig wird darüber diskutiert, wie die Weltmeisterschaft 2006 den Fußball im Lande beeinflusst hat. Meist redet man dabei über Taktik und Spieltempo, selten über Fitness. Aber ist nicht der Fitnessansatz derjenige, der tatsächlich geblieben ist?

Schmidtlein: Es ist sicher so, dass die Spieler inzwischen viel sensibilisierter sind für das Thema Fitness, sie machen sich mehr Gedanken über ihr individuelles Trainingspensum. Und für die Vereine gilt das erst recht.

SZ: Inwiefern?

Schmidtlein: Wenn ich höre, dass jetzt Bundesligisten Leute suchen, die sich im Rehabereich auskennen, oder dass Thomas Doll in Dortmund überlegt, wie er seinen Trainerstab sinnvoll ergänzen kann, dann merkt man, dass die Liga seit der WM in die richtige Richtung denkt.

SZ: Nun, da allerorten wieder die Saisonvorbereitung beginnt, fällt in der Tat auf, dass viele Klubs ihre Trainerstäbe vergrößern. Ist diese Aufstockung eine Klinsmann-Hinterlassenschaft?

Schmidtlein: Ich bin mir sicher, dass die Liga inzwischen erkannt hat, was man mit gezieltem Arbeiten erreichen kann. Außerdem hat auch keiner mehr Angst vor Gummibändern. Der Fitnesscoach von Hertha BSC zum Beispiel hat gleich nach der WM ein paar bestellt.

SZ: Und hinterher haben die Fitnesstrainer der Liga dann behauptet, sie hätten das alles schon früher gemacht.

Schmidtlein: Ja, aber das ist okay. Das Problem ist ja nicht, dass die Kollegen in der Liga zu wenig Ideen hätten. Das Problem ist, dass die Fitnessstäbe in den Vereinen chronisch unterbesetzt waren und immer noch sind. Schauen Sie sich unsere Arbeitsweise bei der Nationalmannschaft an: Wir haben fast nie eine Gruppe mit mehr als acht Spielern. Wenn bei einem Verein ein Coach für 25 Spieler verantwortlich ist, ergibt das automatisch eine Wischiwaschi-Qualität.

SZ: Die Vereine sparen also am falschen Ende?

Schmidtlein: Man muss sich nur mal überlegen, was ein Nationalspieler wert ist: Acht Millionen? Zehn Millionen? Da muss eigentlich der naheliegende Gedanke sein: Wer kümmert sich um dieses Kapital, wer pflegt es? Da darf es doch kein Problem sein, dass ein Fitnesscoach 70- bis 120.000 Euro im Jahr kostet.

SZ: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen idealen Trainerstab zusammenzustellen: Wie groß wäre der?

Schmidtlein: Ich hab mal Michael Ballack gefragt, wieviele Therapeuten, Physios und Trainer es bei Chelsea gibt. Er wusste es nicht. Bei Jens Lehmann und Arsenal ist es ähnlich: Die Spieler haben keinen Überblick, weil das so viele Spezialisten sind. Englische oder italienische Klubs haben zwei bis drei Masseure, zwei bis drei Physios, zwei bis drei Reha-Trainer, zwei bis drei Assistenztrainer und dann noch Co-Trainer und Cheftrainer. In meinem Stab wären mindestens vier Therapeuten, zwei bis drei Konditions- und ein, zwei Rehatrainer.

SZ: Wie würde sich das konkret im Spiel auswirken?

Schmidtlein: Nehmen Sie als Beispiel die Mailänder Seedorf und Kaká. Der eine ist 32, der andere 24, und wenn ich die in die selbe Trainingsgruppe stecke, dann trainiert der eine vielleicht unterschwellig und der andere überschwellig. Wenn ich aber mit jedem individuell arbeiten kann, habe ich beide da, wo ich sie haben will - und es hat jeder gesehen, in welch glänzender Verfassung Seedorf am Saisonende war. Oder Gattuso, auch ein älterer Spieler, sowas geht nur mit sehr geschickter Trainingssteuerung.

SZ: In Deutschland ist der Cheftrainer halt immer noch der Oberguru.

Schmidtlein: Die Trainer müssen lernen loszulassen. Die letzten vier Monate mit Ottmar Hitzfeld bei Bayern waren vorbildlich, er hat ganz klar den Drang verspürt, zu delegieren, abzugeben...

SZ: ... was Sie bei Bayern auch anders erlebten, unter Felix Magath etwa.

Schmidtlein: Lassen Sie mich lieber andere Beispiel nennen, Jogi Löw vor allem, bei ihm sieht man den Unterschied, ob ein Trainer nur ein Verwalter ist oder ein Entwickler. Vor dem Länderspiel in Tschechien (3:1) im März wurde so gezielt taktisch trainiert, auch Spielzüge, da habe ich als Laie später im Stadion zum ersten Mal genau das wiedererkannt, was ich im Training gesehen hatte. Oder auch Jogis Assistent Hansi Flick, der in Hoffenheim schon vorher sehr umfassend in Bereichen wie Prävention und Taktik gearbeitet hat. Die Tendenz geht klar da hin, dass der Trainer ein Teamleader ist, eine Art Manager, der sich einen Stab von Spezialisten zusammenstellt. Wer wohin die Hütchen stellt, darum muss sich ein Trainer im modernen Fußball nicht mehr kümmern.

SZ: Für die Manager ist das keine gute Nachricht. Die müssten im Misserfolgsfall eine ganze Trainerfirma entlassen.

Schmidtlein: Glaube ich nicht. Die Vereine sollten Systeme einsetzen, die unabhängig vom Trainerstab werden. Der Trainerstab ist verantwortlich für Taktik, Methodik und Motivation, aber alles, was sich drumrum abspielt, muss trainerunabhängig sein. Der Trainer muss so etwas werden wie der Pilot in der Formel 1. Der Rennfahrer bringt auch nicht sein eigenes Auto mit, aber er darf dem Rennstall sagen, was ihm am Auto nicht passt, wie er den Spoiler oder das Fahrwerk eingestellt haben möchte.

SZ: Ist Fitness so wichtig wie Taktik?

Schmidtlein: Am Ende macht beim Fußball sicher die Taktik den Unterschied, aber richtig ist, dass Fitness und Taktik immer mehr miteinander zu tun haben. Wieder ein internationales Beispiel: In Deutschland schießen Stürmer mit 75 bis 80 km/h - der Liverpooler Steven Gerrard schlägt mit 75 km/h Pässe. Mit diesen körperlichen Fähigkeiten ist automatisch die Taktik vorgegeben: Solche scharfen Pässe muss man vertikal nach vorn spielen, die kann man nicht quer oder in den Fuß spielen, die könnte ja kein Mensch stoppen. Das sind die Fälle, bei denen Mark Verstegen sagt: "This is where fitness meets tactics."

Lesen Sie im zweiten Teil: Oliver Schmidtlein über seinen Traumspieler Mario Gomez und den Fußballprofi der Zukunft.

SZ: Hat Hitzfeld Sie um Rat gefragt, bevor er seine neuen Weltstars geholt hat?

Lukas Podolski (links) scheint sich bei Oliver Schmidtlein gut aufgehoben zu fühlen. (Foto: Foto: ddp)

Schmidtlein: Nein, warum?

SZ: Weil die neue Wunschtaktik der Bayern ein bisschen englisch aussieht: mit Tempo nach vorne, oft über die Flügel - wäre es da nicht naheliegend, den Fitnesstrainer Schmidtlein nach der physischen Eignung von Spielern zu fragen?

Schmidtlein: Nein, Personalien von dieser Dimension müssen von Trainer und Manager entschieden werden, nicht vom Fitnesscoach.

SZ: Klinsmann und Löw haben aber einen Spieler wie Hitzlsperger auch wegen seiner körperlichen Belastbarkeit zur WM mitgenommen. Auch von Liverpools Trainer Benítez weiß man, dass er aktuelle physische Daten stets in seine personellen Überlegungen einbezieht. Kann es im modernen Athletikfußball bald so weit kommen, dass Spieler vor allem nach der Fitness nominiert werden?

Schmidtlein: Der Trainer der Bolton Wanderers zum Beispiel hat seine Elf nach Fitnesswerten aufgestellt, so sind die damals in die Premier League aufgestiegen. Aber natürlich sollten Fitnesswerte eine entscheidende Hilfestellung sein - und nicht der alleinige Maßstab.

SZ: Ist die Fitness nicht manchmal chancenlos gegen den Kommerz? Der FC Bayern reist nun einen Tag nach dem Trainingsstart für ein Privatspiel nach Hongkong, über Zeitzonen hinweg.

Schmidtlein: Aus der Sicht eines Trainingswissenschaftlers wäre eine Vorbereitung ohne Spiele das Allerbeste, aber das ist natürlich nicht möglich. Für den FC Bayern ist es auf jeden Fall gut, künftig technologische Unterstützung überall dabei zu haben. Man kann dann am Laptop sofort analysieren, wie die Spieler etwa den langen Flug verkraftet haben. Riccardo Proietti ist in Sachen Auswertung und Trainingssteuerung der Beste, den ich kenne.

SZ: Und es wäre auch wichtig, dass man am Flughafen in Hongkong nicht gleich die ersten Treppenläufe macht.

Schmidtlein: Das haben Sie gesagt.

SZ: Was wird der FC Bayern dank des neuen Omega-Wave-Programms auf Herrn Proiettis Laptop in dieser Saisonvorbereitung erstmals wissen, was er bisher noch nie gewusst hat?

Schmidtlein: Man wird exakt erkennen, welcher Spieler welche Trainingsbelastung wie verkraftet. Man kann sehen, wer wo Probleme hat und individuell unterstützt werden muss. Man erkennt sogar, wer nachts schlecht schläft.

SZ: Tatsächlich?

Schmidtlein: Wenn es ein paarmal passiert, sicher. Dadurch verschieben sich verschiedene neuronale und hormonelle Werte, so lässt sich auch die vegetative Stimmungslage objektiv messen.

SZ: Der gläserne Profi also.

Schmidtlein: Im Zuge der Professionalisierung der Branche wird man solche Informationen über die Spieler künftig haben. Was der Verein dann aus diesen Daten macht, ist seine Sache.

SZ: Gibt es einen Spieler, der der Traum jedes Fitnesstrainers ist?

Schmidtlein: Ich würde Mario Gomez nennen. Der ist die ideale Mischung: ein Brecher, aber trotzdem super-wendig. Der hat Größe und Wucht, ist aber trotzdem schnell und elastisch.

SZ: Wie sieht der Profi der Zukunft aus, sagen wir: in zehn Jahren? Der Bundestrainer sagt: Um Titel zu gewinnen, braucht man künftig intelligente Spieler.

Schmidtlein: Eine gewisse Grundintelligenz gehört heute zwingend dazu, unabhängig von Bildung oder Schulabschluss. Ein Spieler muss komplexe taktische Zusammenhänge begreifen, und er sollte mitdenken beim Spiel. Es kann nicht sein, dass Ersatzspieler auf der Bank nicht beobachten, wie der Gegner Standardsituationen ausführt, und wenn sie eingewechselt werden, wissen sie nicht, wem sie bei Ecken zugeteilt sind. Das sind Kleinigkeiten, die Spiele entscheiden können. Spieler werden auch verstehen müssen, dass sie selbst ihr eigenes Kapital sind. Sie werden sich in Zukunft immer mehr ihre eigene Infrastruktur schaffen müssen, sie müssen ein Gefühl für ihr Umfeld entwickeln, um zu wissen: Wer hilft mir, wenn es mir schlecht geht, wenn ich verletzt bin? Dafür brauchen sie geeignete Leute.

SZ: Damit könnten die umstrittenen Berater immer wichtiger werden.

Schmidtlein: Es wird weniger der Spielervermittler gefragt sein, eher ein Karrierebegleiter. Der muss seine Spieler mit den richtigen Leuten zusammenbringen - und zwar, bevor sie verletzt sind, bevor sie eine mentale Krise haben. Und professionelle Fitness sollte für den Profi in zehn Jahren so eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir solche Interviews gar nicht mehr führen müssen.

© SZ vom 29.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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