FC Bayern unterliegt Barcelona:Diagnose: ausgezehrt

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Ein Gegentor wie ein K.o-Hieb: Bei Lionel Messis 2:0 können die Münchner Neuer, Rafinha und Benatia (von links) nur anerkennend zuschauen. (Foto: imago)

Das 0:3 im Halbfinal-Hinspiel der Champions League zeigt: Der FC Bayern ist gerade nicht in der Verfassung, um ein Spiel gegen eine Spitzen-Elf wie Barcelona ohne entscheidende Fehler zu überstehen.

Von Christof Kneer, Barcelona

Wann das Ende genau begann, war hinterher nur noch eine theoretische Frage. Vielleicht begann das Ende in jenem Moment, als Rafinha seine Hand an Neymar legte und Neymar dankbar zu Boden stürzte. Vielleicht begann das Ende in der nächsten Sekunde, als Rafinha seinen Landsmann wegen des Schwalbenversuchs beschimpfte, oder es begann eine weitere Sekunde später, als Manuel Neuer den gerade empfangenen Ball kaum bei sich behielt und ihn sofort links raus spielte auf den Flügel. Vielleicht begann das Ende auch erst, als der Ball draußen auf dem Flügel den Adressaten Juan Bernat erreichte, der von der unverhofften Post mindestens so überrascht war wie der Ball selbst. Vielleicht begann das Ende, als Bernat den Ball in der Hektik an Dani Alves verlor, spätestens begann das Ende aber, als der Ball bei Lionel Messi landete. Lionel Messi schoss den Ball ins Tor.

Das 1:0 war der Anfang vom Ende. Das Ende schritt fünf Minuten später mit Messis 2:0 fort, und das Ende vom Ende stammte auch von Messi. Sein Pass zu Neymar brachte jenes 3:0, das aus dem Halbfinal-Rückspiel der Champions League am kommenden Dienstag eine eher rhetorische Angelegenheit gemacht hat. "Wir gehen mit Herz und Leidenschaft ins Rückspiel und schauen, wozu es reicht", sagte Philipp Lahm später, in den Katakomben des legendären Camp Nou. Und Jérôme Boateng sagte: "Im Rückspiel wollen wir als Mannschaft zusammenstehen, und wenn's geht, gewinnen." Vielleicht sogar 4:0 gewinnen? Das sagte keiner, nicht nach diesem Anfang vom Ende in der 77. Minute.

Rafinha motzt, Neuer wirft zu schnell ab, Bernat verliert den Ball - das 0:1 erzählt schon alles

So ein Fußballspiel ist ein komplexes Puzzle, und natürlich ist es ein verführerischer Ansatz, das Puzzle hinterher noch mal auseinander zu nehmen und das entscheidende Teilchen zu suchen. Nicht jedem Fußballspiel wird man mit dieser Methode gerecht, im Falle des Münchner 0:3 in Barcelona aber dürften sowohl die oberflächlichen Betrachter als auch die diplomierten Analysten auf dieselbe Schlüsselszene stoßen, die sich in weitere, kleine Schlüsselszenchen aufteilen lässt. Das 1:0 erzählt im Kleinen die Geschichte dieses großen, faszinierenden Kampfspiels, in Messis Führungstor steckt viel von dem, was man über den FC Bayern im Mai 2015 wissen muss. Jene fatale Fehlerkette, jene Gedanken- und Reflexkollision, die sich zum fatalen 1:0 verdichtete, liefert eine ebenso präzise wie banale Diagnose über den aktuellen Zustand des Klubs: Der Kader dieses kraftstrotzenden, vom Selbstverständnis her stets pumperlg'sunden FCB ist, ausgezehrt durch immer neue Verletzungen, im Moment im Grenzbereich angekommen. In seinem aktuellen Gesundheitszustand ist dieser Kader nicht in der Lage, ein Spiel gegen eine Mannschaft wie Barcelona ohne Fehler zu überstehen.

Auch das ist eine Lehre des Spiels: Im Grenzbereich, wenn keine Luft mehr zum Atmen oder gar Denken bleibt, wird jede Elf, wird jeder Spieler auf seinen Grundcharakter zurückgeworfen. Rafinha wird nickelig und lässt sich auf ein Wortgefecht ein, das ihn ablenkt. Manuel Neuer macht das Spiel schnell, was in neun von zehn Fällen eine coole Idee ist, nicht aber in einem Fall, in dem Rafinha abgelenkt und Bernat noch nicht anspielbereit ist. Und Bernat ist Spanier und Bayern-Spieler: Er sucht immer und überall die spielerische Lösung, auch wenn ihn Neuers jäher Pass unter Druck setzt. Er bolzt den Ball nicht auf die Tribüne. Er geht lieber ins Dribbling und verliert den Ball an Dani Alves, der dann diesen fürchterlichen Messi anspielt.

So haben die Bayern das Spiel verloren, mit 0:1, 0:2, 0:3. Die Chronik dieses ebenso bedenklichen wie unangekündigten Zusammenbruchs steht und fällt mit dieser Szene, in der die Bayern in einem kurzen Moment der totalen gemeinschaftlichen Überforderung ein Spiel weggegeben haben, in das sie sich 77 Minuten lang gemeinschaftlich hinein gehauen hatten. 77 Minuten haben sie mühsam, Zug für Zug und unter erheblichem Ächzen und Stöhnen an ihrem Kartenhaus gebaut, und dann, ätsch, kommt dieser Messi und zieht eine Karte weg, und alles stürzt zusammen.

Bis zum Finale sind Lahm und Thiago wohl wieder fit - aber das nützt vermutlich nichts mehr

Man dürfe nach dem 0:1 nicht so "auseinanderfallen", "einbrechen" und "untergehen", hat Jérôme Boateng später in dramatischer Wortwahl gesagt, aber er schaute dabei eher undramatisch durch seine Gelehrtenbrille. Sein Blick sagte: Was willste machen gegen Messi? Boateng weiß ja, dass große Teams genau das können: Sie lauern auf den einen Moment, in dem der Siegfried auf der anderen Seite kurz seine verwundbare Stelle zeigt. Die Spieler des FC Barcelona sind Spezialisten in dieser Disziplin, sie haben das einst perfektioniert, unter einem Trainer namens Guardiola. Der Sage nach haben sie den Ball manchmal absichtlich dem Gegner überlassen, um dann gemeinsam über ihn herzufallen und ihn zu erwischen, wenn er nicht auf Verteidigung eingestellt ist. Wenn er zum Beispiel herumnickelt wie Rafinha oder - siehe oben - im falschen Moment abwirft und ein Dribbling wagt.

"Wir haben eben unsere eigene Identität im Spiel", hat Philipp Lahm später gesagt, "unsere Identität ist es, auf Ballbesitz zu spielen, wir wollen nach vorne spielen. Aber unsere Identität ist nicht, dass wir dann Konterchancen zulassen wollen." Einige Ohrenzeugen haben da eine kleine Stilkritik des Kapitäns heraushören wollen, aber sie haben da wohl das Falsche gehört. Es war eine nüchterne Bestandsaufnahme, Lahm steht in Treue fest zu den Ideen seines Trainers, er wäre der Letzte, der dem brachialen Befreiungsschlag auf die Tribüne das Wort redet. Zwar haben die Bayern bei den Gegentoren eher ausgesehen wie die Karikatur einer Ballbesitzmannschaft, sie haben wie Bernat vor dem 0:1 oder wie Thiago vor dem 0:2 dem Gegner ästhetisch den Ball aufgelegt, und auch beim 0:3 haben sich die Münchner bei eigenem Ballbesitz formschön auskontern lassen - aber die Verletztenliste ist zu lang, als dass die Spieler schon Grundsätzliches in Frage stellen und sich in gegenseitige Zersetzungsprozesse verwickeln würden.

Wer Lahm, Thiago und Schweinsteiger gegen Barcelona spielen und sich quälen sah, der ahnt: In ein paar Wochen könnten vor allem die ersten beiden wieder eine durchaus finaltaugliche Spritzigkeit erreichen, es könnte reichen bis zum 6. Juni, dem Tag des Endspiels. Blöd nur, dass die Bayern ihre Fitness dann wahrscheinlich im Fernsehsessel ausleben müssen.

© SZ vom 08.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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