Ein glücklicher Sieg:Machtlos im Signalgewitter

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Einem falschen Elfmeter-Pfiff verdankt der FC Bayern seinen 2:1-Erfolg im Derby. Die Augsburger richten ihren Zorn nicht auf den Schiedsrichter, sondern auf seinen Assistenten.

Von Christof Kneer, München

Gut zweieinhalb Stunden hat Knut Kircher gebraucht, bis er am Samstagabend wieder zu Hause war. Er hat schon schönere Heimfahrten nach Rottenburg am Neckar erlebt, auch die Presseschau am Abend ist schon mal entspannter ausgefallen. Natürlich hat er zu Hause noch mal die Szene des Tages angeschaut, natürlich hat er noch mal all die Sätze gehört, und einmal ist er sich selbst auf dem Bildschirm erschienen. Kircher sah also Kircher und hörte ihn sagen: "Das bringt Augsburg leider keine Punkte mehr, sorry, tut uns leid, aber Wahrnehmung und Auslegung waren falsch. Das war kein Elfmeter."

Knut Kircher ist der Mann, dem die Spieler vertrauen. Das Sportmagazin kicker veranstaltet regelmäßig eine Umfrage unter Fußballprofis, und bei der Frage nach dem beliebtesten Schiedsrichter landet Kircher nur dann auf Platz zwei, wenn er nicht gerade auf Platz eins landet. Kircher ist der riesenhafte Ruhepol in einer dauererregten Branche. Es wird dunkel, wenn er sich vor den Fußballern aufbaut und mit seiner Körpergröße von 1,96 Meter Schatten wirft, und wenn es um ihn herum besonders wild tobt, legt er den Spielern aus großer Höhe die Hand auf die Schulter. Meistens reicht das zur Deeskalierung. Beim Spiel der Bayern gegen Augsburg reichte es nicht.

Im Ohr des Schiedsrichters piept es, am Oberarm vibriert es, und der Assistent zückt die Fahne

Knut Kircher habe "gut gepfiffen", er sei "sehr souverän aufgetreten", das müsse man "mal loben": Das sagte später weder ein Schiedsrichter-Funktionär noch Knut Kirchers Ehefrau. Es sagte Jan-Ingwer Callsen-Bracker, Abwehrspieler jener Augsburger Elf, die Kirchers spektakulärer Fehlentscheidung eine 1:2-Niederlage in letzter Minute zu verdanken hatte. Auch Augsburgs Torwart Marvin Hitz, der den unberechtigen Elfmeter aus dem Tor klauben musste, meinte, Kircher habe "ja nichts machen können, wenn der Assistent die Fahne hebt". Zwar klang bei jedem Augsburger eine massive Verärgerung über Thomas Müllers unberechtigtes Elfmetertor durch, die Wortwahl reichte je nach Temperament, Stimmung und Technik des Fragestellers von "Witz" (Torschütze Alexander Esswein), "absoluter Witz" (Trainer Markus Weinzierl), "bodenlos" (derselbe) und "Frechheit" (derselbe) bis zu "keine Ahnung, wie er das da draußen nicht sehen kann" (Torwart Hitz); und vor der x-ten Kamera ließ sich Weinzierl am Ende noch zu der Formulierung hinreißen, sein Team sei "beschissen worden". Aber direkt oder indirekt enthielt jeder dieser Vorwürfe die Botschaft: Der Kircher, der kann nix dafür. Der Assistent Kempter, der war's!

Natürlich kann Kircher diese ehrenvolle Interpretation nicht gutheißen, kraft Amtes, aber auch aus Überzeugung. "Robert Kempter hat mich über die Jahre schon in so vielen Spielen in engen Situationen gerettet", sagte er am Sonntag nach einer eher kurzen Nacht, "wir sind ein Team, ich bin der Teamchef und für die Entscheidung verantwortlich." Der Fehlpfiff von München gewährt einen anschaulichen Einblick in das Handwerk eines Schiedsrichter-Gespanns: Er zeigt, welche komplexen Wege gerade die geschulten Wahrnehmungen mitunter gehen können, bis sie sich zu einer Entscheidung - in diesem Fall: Fehlentscheidung - verdichten. Als Bayerns Douglas Costa von rechts draußen loszog, hatte Kircher seinen Blick eher zur Mitte gerichtet, weil die Schiedsrichter seit dieser Saison aufgefordert sind, heimliche Umtriebe im Strafraum schärfer zu ahnden. "Wir wollen in dieser Saison noch mehr auf das Positionsgerangel im Zentrum achten", sagt Kircher, "etwa darauf, ob ein Abwehrspieler einen Stürmer hält oder wegschiebt, bevor der Ball da ist."

So nahm Kircher nur aus dem Augenwinkel den Auffahr-Unfall auf der rechten Spur wahr: Costa schlug einen Haken, rumpelte in Augsburgs Markus Feulner hinein und stürzte - im nächsten Moment ging ein Signalgewitter über Kircher nieder. Der Empfänger in seinem Ohr piepte, der Empfänger an seinem Oberarm vibrierte, und draußen zückte der Assistent Kempter die Fahne, funkte Foul und blieb auch auf Nachfrage bei seinem fatalen Urteil.

"Unter allen Schiedsrichter-Teams gilt die Absprache: Wenn der Schiedsrichter keine hundertprozentige Wahrnehmung hat, der Assistent sich aber sicher ist, dann übernimmt der Chef die Entscheidung", sagt Kircher. Aber als er mit seinen Assistenten kurz nach Spielschluss die ersten Bilder sah, sah er, dass er nichts sah: Es gab keinen Check, keinen Rempler, keinen verirrten Arm, es gab überhaupt keine aktive Bewegung von Feulner in Richtung Costa - eine solche Bewegung wäre die Voraussetzung gewesen, um den Tatbestand "Foul" überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Es zählte zu den Kuriositäten des Tages, dass Kircher seinen Irrtum vor den Kameras schon längst mannhaft eingeräumt hatte, als mancher Bayer die Szene immer noch auf versteckte Foulanteile absuchte. "Douglas macht einen Haken, und Feulner blockiert ihn schon", meinte etwa Thomas Müller, "von einer Schwalbe war das weit entfernt." Müller hatte aber ohnehin seinen skurrilen Tag, weil er im Spiel diesmal ein paar sehr lustige Tapsigkeiten vorführte, die ihn selbstverständlich nicht daran hinderten, mit der Vorlage zu Lewandowskis 1:1 (77.) und dem Elfmeter zum 2:1 das Spiel zu entscheiden. "Den Elfmeter muss man nicht geben, kann man aber", sagte er.

Das konnte man zwar nicht, aber man muss wohl den Rest des Spiels betrachten, um solche Sätze zu verstehen. Die Bayern waren einerseits etwas genervt von sich selbst, Pep Guardiola mahnte angesichts der gemütlichen ersten Hälfte, man müsse "90 Minuten spielen, nicht 45", und er hoffe, "dass das eine Lehre für die Zukunft" sei. Andererseits hat es den Bayern nicht gefallen, dass die Elfmeter-Debatte die zehntausend Prozent Ballbesitz überdeckte, die das 2:1 am Ende rechtfertigten.

Das Spiel Bayern gegen Augsburg wird Knut Kircher übrigens nie mehr pfeifen, aber das liegt nicht an der Fahne seines Assistenten. Kircher, 46, hat die vom DFB vorgeschriebene Altersgrenze demnächst erreicht und wird am Saisonende aufhören.

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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