Europameisterschaft:Zu Gast bei Urs

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Von der kleinen Fußballnation Schweiz gibt es viel zu lernen. Auch für die Deutschen. Gut nur, dass Löw für sein helvetisches Projekt die besseren Spieler zur Verfügung stehen.

Christof Kneer

Doch, doch Urs Siegenthaler gibt es noch. Im DFB-Trainingslager auf Mallorca ist er mehrfach und von unterschiedlichen Zeugen gesichtet worden, es kann also keinen Zweifel geben. Siegenthaler sieht immer noch so aus, wie man ihn in Erinnerung hat, und bestimmt ist er noch derselbe charmante Plauderer.

Joachim Löw und der Deutsche Fußball haben viel von den Schweizern gelernt. (Foto: Foto: dpa)

Für Letzteres finden sich zurzeit aber weniger Zeugen. Siegenthaler ist beim DFB als eine Art Geheimdienstler beschäftigt, und inzwischen ist er so geheim, dass man ihn kaum noch beim öffentlichen Sprechen erwischt. Vor einem Jahr hätte er noch metaphernreich die Trends im internationalen Fußball bebildert, und sicher hätte er auch die eine oder andere Anekdote beigesteuert aus der Zeit, als er als Trainerausbilder des Schweizer Verbandes die Azubis Ottmar Hitzfeld und Joachim Löw unterwies.

Den deutschen Fußball retten

Für Anekdoten ist Chefscout Siegenthaler inzwischen der falsche Ansprech- partner, er hat wohl einfach zu viel zu tun. Gemeinsam mit Löw soll Siegenthaler den deutschen Fußball retten, aber der deutsche Fußball soll das am besten gar nicht merken. Siegenthaler hat Widerstände überwinden müssen am Anfang, nicht nur in der Bundesliga, auch im Verband. Allen Fakten zum Trotz war der deutsche Fußball ja immer noch von seiner Einzigartigkeit überzeugt, und natürlich hat er es nicht gern gehört, dass ihm ein 60-jähriger Schweizer den Fußball erklärt. Ein Schweizer!

Von diesem Dienstag an ist der deutsche Fußball zu Gast bei Urs. Am Dienstag bezieht der DFB-Tross Quartier im Hotel Giardino in Ascona am Lago Maggiore - ein Quartier, das die DFB-Macher schon gebucht hatten, bevor Gruppengegner und Spielorte ermittelt waren. So kommt es, dass die Deutschen ihre Vorrundenspiele im östlichen Österreich austragen und im Süden der Schweiz wohnen. Löw wolle eben gern in der Schweiz wohnen, sagt ein Vertrauter.

Mit Löw und Siegenthaler im Tessin - ein Bild, das den aktuellen Ansatz des deutschen Fußballs treffend beschreibt. Ohne die Schweiz lässt sich diese deutsche Nationalelf in der Tat nicht verstehen. Der Trainer Löw ist ja in der Schweiz sozialisiert worden, und wenn man es zugespitzt sagen möchte, dann versucht Löw seit seiner Amtsübernahme, Deutschland in eine Art Großschweiz zu verwandeln.

So zugespitzt würde Löw selbst das natürlich nie sagen (und Siegenthaler erst recht nicht), weil der deutsche Fußball zwar nicht mehr ganz so sehr von seiner Einzigartigkeit überzeugt ist, aber trotzdem nicht mit der Schweiz verglichen werden möchte. Die Wahrheit ist ja nicht sehr schmeichelhaft: Der deutsche Auswahlfußball war zuletzt so klein geworden, dass man ihn behandeln konnte wie den Fußball der Schweiz; mit dem Unterschied, dass die Schweiz sich ihrer Kleinheit bewusst war und mit der Behandlung ein Jahrzehnt eher begonnen hatte.

"Die Schweiz war immer ein Ausbildungsland"

"Wir Schweizer waren nicht gut genug und haben deshalb früh angefangen, uns überall etwas anzuschauen, in Frankreich, Italien, England", sagt der Schweizer Rolf Fringer, der Löw einst als Co-Trainer nach Stuttgart holte. Die beiden sind sich 1991 erstmals begegnet, als Löw seine Spielerkarriere in Schaffhausen unter dem Trainer Fringer auslaufen ließ; später wurde Löw dort Spielertrainer, und Fringer findet, dass Löw viel Helvetisches aus jener Zeit mit hinübergerettet ins hohe Amt. "Das Über-den-Tellerrand-Schauen hat Jogi in der Schweiz mitbekommen", sagt Fringer.

So erfuhr Löw schon Anfang der Neunziger von der Existenz geheimnisvoller Viererketten, und als in der Schweiz die 15-Jährigen den sachgerechten Gebrauch der Raumdeckung übten, wurde in der DFB-Elf zum zwölften Mal der Libero Matthäus reaktiviert. "Die Schweiz war immer ein Ausbildungsland", sagt Marcel Koller, Schweizer Coach des VfL Bochum. "Die Klubs konnten sich nie teure Spieler leisten, also haben sie die Spieler selbst entwickelt."

Inzwischen ist entwickeln ein Modewort im DFB-Land, und Koller muss manchmal schmunzeln, wenn er die deutschen Debatten (verbesserte Trainerausbildung, einheitliche Spielphilosophie bis in die Jugendteams) verfolgt. Vor anderthalb Jahrzehnten hat ein Direktor des Schweizer Verbandes ein Konzept erstellt, in dem all das schon drinstand.

So versucht Löw nun also, das große Land mit der Systematik einer kleinen Nation zu reformieren, und sein Glück ist, dass ihm bessere Spieler zur Verfügung stehen. Seine Großschweiz kann etwa auf einen Spieler namens Ballack zurückgreifen, und in der echten Schweiz wäre sie wohl auch froh, wenn sie Sorgenkinder vom Kaliber eines Lukas Podolski hätten.

Der Münchner, sagte Löw vor der Reise ins Tessin, dürfe inzwischen als aussichtsreicher Kandidat fürs linke offensive Mittelfeld gelten. Ein Stürmer auf der Außenbahn? Ja, das ist ein neuer Trend im Weltfußball - und ein Tipp von Urs Siegenthaler.

© SZ vom 03.06.2008/pes - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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