Europameisterschaft:Die schrägste Pointe

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Angreifer Oliver Neuville kann sich nicht nur als Dribbler, Wusler und Joker für den endgültigen deutschen EM-Kader qualifizieren - sondern auch noch als Fremdenführer.

Christof Kneer

Wäre das nicht eine große Enttäuschung für jede anständige Mutter? Da kommt der Sohn nach vielen Jahren wieder nach Hause, und dann schläft der Junge im Hotel! Der Junge müsste schon eine gute Ausrede haben, um die Mutter zu überzeugen, ihm das Frühstück nicht trotzdem ans Bett zu bringen - der Junge aber, um den es hier geht, hat eine so gute Ausrede, dass nicht mal eine Mutter eine Chance dagegen hat.

Oliver Neuville will endlich seine erste EM-Premiere feiern. (Foto: Foto: dpa)

Der Junge wohnt nämlich in einem Hotel, in das man nur vorrücken darf, wenn man zum Tross des Deutschen Fußball-Bundes gehört, was noch nicht viele Mütter geschafft haben. Oliver Neuville könnte nach Hause kommen nächste Woche, nach Ascona, wo er die ersten 18 Jahre seines Lebens verbrachte und wo seine Eltern heute ebenso leben wie sein elfjähriger Sohn - aber er kommt nur, wenn die DFB-Trainer ihn für jene 23-köpfige Reisegruppe melden, die vom 3. Juni an ihr EM-Quartier in Ascona/Tessin beziehen wird.

Der deutsche Fußball hat schon viele Geschichten erlebt, aber so eine war noch nicht dabei. Es ist bisher noch nicht vorgekommen, dass ein Spieler sich nicht nur in seinen Eigenschaften als Dribbler, Wusler und Joker aufdrängt, sondern auch als Fremdenführer. "Ich könnte den Jungs alles zeigen", sagt Neuville, "aber der Bundestrainer kennt sich hier auch aus, er war oft hier im Urlaub."

Opa aus Belgien, Vater aus Aachen, Mutter aus Kalabrien, geboren im Tessin - Neuville könnte der einzige Deutsche werden, der nach der WM 2006 gleich noch ein Heimturnier bestreitet. Als Jugendlicher kickte er beim FC Gambarogno, auf der anderen Seite des Lago Maggiore, später wechselte er zu Locarno, er kennt alle Fußballplätze da. "Piccolino" nannten sie ihn damals, und auch wenn Neuville bis heute nicht größer als 1,71 Meter ist, so wären sie im Tessin stolz, wenn Piccolino als großer deutscher Nationalspieler heimkehrte.

Zweimal den deutschen Fußball gerettet

Oliver Neuville ist 35 Jahre alt inzwischen, aber das könnte die schrägste Pointe seiner kuriosen Karriere werden. Bis heute wird der Stürmer unterschätzt, und doch hat er dem deutschen Fußball ein paar markante Momente hinterlassen; 2002 hat er den deutschen Fußball gerettet, mit dem späten Siegtor (88.) im WM-Achtelfinale gegen Paraguay; vier Jahre später hat er ihn wieder gerettet, mit dem sehr späten Siegtor (93.) im Vorrundenspiel gegen Polen; und nebenher hätte er den deutschen Fußball fast noch zum Weltmeister gemacht. 2002, im WM-Finale gegen Brasilien, wuchtete er einen 30-m-Freistoß an den Pfosten. Piccolino kann nämlich schießen wie ein Pferd.

"Vielleicht ist es wirklich so, dass ich im richtigen Moment einfach da bin", sagt er. In dieser Saison trug er 15 Tore zum Gladbacher Aufstieg bei, und so bleibt dieser kleinen, aber feinen Karriere als Makel nur, dass EM-Teilnahmen fehlen. 2000 und 2004 wurde er im letzten Moment aus dem Kader gestrichen, erst von Erich Ribbeck, dann von Rudi Völler. 2000, sagt Neuville, war es "besonders schlimm" - er hatte jedes Qualifikationsspiel bestritten, am Ende stand ein Stürmer namens Paolo Rink im Kader.

Bei seiner letzten EM-Chance will er nicht schon wieder dran glauben, aber Patrick Helmes, sein mutmaßlicher Konkurrent um einen der 23 Kaderplätze, ist gut in Form. Sollte es Neuville ein drittes Mal erwischen - er ist einstweilen fest vom Gegenteil überzeugt - dann wüsste er schon, was er anfangen würde mit diesem Sommer. Er würde Urlaub machen, bei der Familie, im Tessin. Oliver Neuville fährt nach Ascona, so oder so.

© SZ vom 27.05.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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