Euphorische Waliser:Sie stimmen für Remain

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Alles andere als eine Bauchlandung: Wales zieht gegen Belgien überraschend ins EM-Halbfinale ein. (Foto: Petr David Josek/AP)

Sogar die Fans der Belgier freuen sich mit den Walisern über deren Halbfinal-Einzug. Ihr Trainer hat ihnen eine ganz einfache Losung mit auf den Weg gegeben und sagt: "Es ist wichtig zu träumen."

Von Claudio Catuogno, Lille

Eine rührende Szene spielte sich am Freitag gegen Mitternacht am Bahnhof Lille Flandres ab: Als eine Gruppe walisischer Fans sich ihren Weg durch die Haupthalle bahnte, bildeten Anhänger aus Belgien eine Gasse - und applaudierten. So, wie die Verlierer-Mannschaft nach großen Finals immer ein Spalier bildet, um den Gewinnern auf ihrem Weg zur Pokal-Übergabe zu gratulieren.

Man hat Fußballfans auch schon anders miteinander umgehen sehen bei dieser Europameisterschaft. Und oft sind es ja die unerwarteten Niederlagen, die sich am frustrierendsten anfühlen. Zum Beispiel so eine: Belgien - Wales 1:3. Aber womöglich ist diese Geste der Anerkennung den Belgiern auch deshalb so leicht gefallen, weil an diesem Abend allen klar war: Das kleine Wales, das erstmals seit der WM 1958 wieder bei einem Turnier dabei war, hatte im EM-Viertelfinale in Lille nicht durch Glück oder Zufall oder Schiebung 3:1 gegen den Favoriten Belgien gewonnen. Sondern hochverdient.

Und deshalb trifft nun am Mittwoch im Halbfinale in Lyon Gareth Bale, 26, der eine 100-Millionen-Mann von Real Madrid, auf Cristiano Ronaldo, 31, den anderen 100-Millionen-Mann von Real Madrid, und dessen Portugiesen. "Es ist einfach unglaublich! Jetzt liegt alles in unseren Händen", sagte Bale. Fragen zu seinem Klub-Kollegen blockte er ab: "Es ist Portugal gegen Wales, nicht mehr."

Wales gewinnt mit Bale, nicht wegen ihm

Das Gockelhafte eines Ronaldo, der immer allen beweisen muss, dass er der Beste ist - dem Waliser Bale geht diese Attitüde völlig ab. Auch das ist übrigens eines der Erfolgsgeheimnisse der Waliser: Sie gewinnen ihre Spiele mit Bale, aber nicht nur wegen ihm - sie profitieren von seiner Präsenz, seiner Geschwindigkeit, seiner Unberechenbarkeit und seiner Fähigkeit, das Offensivspiel zu strukturieren - sie machen sich aber nicht von ihm abhängig.

Nach dem Treffer des Belgiers Radja Nainggolan (13.), einem Weitschuss-Kracher von der Strafraumgrenze, drehten Ashley Williams (31.), Hal Robson-Kanu (55.) und der eingewechselte Sam Vokes (86.) das Spiel mit drei Toren, an denen Bale allenfalls in der Entstehung beteiligt war.

Insbesondere das 2:1 von Robson-Kanu war einer der beeindruckendsten Treffer bisher bei diesem Turnier. Mit dem Rücken zum Tor stoppte er im Strafraum den Ball, täuschte ein Abspiel vor - und in dem Moment, in dem alle Belgier um ihn herum davonstoben, weil sie mit einem Pass rechneten, drehte sich Robson-Kanu um die eigene Achse und schoss fast schon lächerlich frei ein. "Kanu believe it?", fragte das Boulevardblatt Sun.

"Kanu wer, wie, was, warum?", fragten sich hingegen die Belgier. Wo spielt denn bitte dieser Supertechniker, der in der Lage ist, die Abwehr des Weltranglistenzweiten so cool ins Leere laufen zu lassen? Nun, Hal Robson-Kanu ist seit Freitag arbeitslos. In der vergangenen Saison war er noch beim FC Reading in der zweiten englischen Liga beschäftigt, sein Vertrag lief am Vorabend des Viertelfinales aus. Aber nun hatte er gut lachen: "Ich denke, dass ich meine Zukunft selbst in meinen Händen habe", sagte er. Einen EM-Halbfinalisten wird doch irgendwo in Europa ein Klub brauchen können?

"Habt keine Angst"

Allerdings darf man auch nicht unterschätzen, um wie viel besser die Gruppendynamik jeden Einzelnen macht bei den Walisern. Da sind die ergriffenen Fans draußen auf der Tribüne mit ihrem Lied: "Don't take me home, please don't take me home. I just don't wanna go to work, I wanna stay here and drink all ya beer!" Und da ist der clevere Trainer Chris Coleman, der dieses Ambiente mit klaren taktischen Anweisungen und mit einer starken Botschaft grundiert: "Habt keine Angst!"

Und nun? Europameister? Wie es 2004 die Griechen vorgemacht haben? Coleman wäre ein Narr, würde er den Titel als Ziel ausgeben. "Wir haben nie daran gedacht, hier zu gewinnen", sagt er also. "Aber natürlich wollen wir weiter. Es ist essenziell, es ist wichtig zu träumen." Zunächst einmal muss er aber wieder grübeln. Aaron Ramsey, der überragende Spielmacher, hat für ein Handspiel irgendwo im Mittelfeld seine zweite gelbe Karte gesehen und ist im Halbfinale gesperrt. Aber auch da wird Coleman sich sicher was einfallen lassen.

Und dann spielt ja auch noch die Politik hinein in diesen Zeiten. Wales zählt zu den Teilen des Vereinigten Königreichs, die mehrheitlich für den "Brexit" aus der EU votiert haben - im Achtelfinale gegen die Nordiren, die in der EU bleiben wollen, war das ein großes Thema gewesen. Aber anders als wiederum die Engländer, die kurz nach der Volksabstimmung im Achtelfinale gegen Island verloren, stimmen die walisischen Fußballer bei der EM eindrücklich mit "Remain". Und strahlen damit wiederum zurück in die Politik.

"Begeisternde Leistung, begeisterndes Ergebnis", twitterte der britische Premierminister David Cameron in der Nacht zum Samstag, "Leidenschaft und Stolz der Waliser und ihrer Fans waren unglaublich." Wie er denn dieses Kompliment von höchster Stelle bewerte, wurde der walisische Flügelspieler Neil Taylor gefragt. Welcher Premierminister denn gratuliert habe, fragte der verdutzt. "Cameron? Ach so. Ich dachte, der wäre schon weg."

© SZ vom 03.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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