Die Schweiz trauert:So schön und doch so wertlos

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Shaqiris Treffer zum 1:1 ist der gelungenste Moment dieser EM. Und doch nur für die Galerie.

Von Peter M. Birrer und Ueli Kägi, Saint-Étienne 

Dieses Ende! Diese Leere! Dieses Entsetzen! Dieses Bild! Granit Xhaka am Boden, die Kollegen stehen um ihn herum. Dann gehen sie in die Kurve, Kapitän Lichtsteiner voraus, hinter ihm Shaqiri. Sie werfen ihre Trikots in die Menge, die rote Wand jubelt ihnen zu, als wären sie Sieger. Als ginge die Reise weiter nach Marseille, ins Viertelfinale. Geht sie nicht. Die Schweiz ist ausgeschieden.

Es sind dramatische letzte Minuten. 1:1 nach der Verlängerung, 1:1, obwohl die Schweiz den Polen so sehr überlegen ist. Elfmeterschießen. Lichtsteiner übernimmt als Erster und verwertet souverän. Lewandowski, Kapitän des Gegners, gleicht aus. Und jetzt ist Xhaka an der Reihe, jener Spieler, der so vieles richtig macht, so vieles elegant löst, der so viel läuft, der an dieser EM zum Chef aufgestiegen ist.

Xhaka, ausgerechnet Xhaka

Er holt Anlauf. Und der Ball fliegt. Aber nicht ins Tor. Sondern weit am Pfosten vorbei. Xhaka, ausgerechnet Xhaka! Der 45-Millionen-Euro-Transfer von Arsenal.

Und danach? Milik trifft, obwohl Sommer die Hände am Ball hat; Shaqiri lässt Fabianski keine Chance; Glik und Schär, Blaszczykowski und Rodriguez, sie alle treffen. Bis noch einer da steht, ein Pole. Krychowiak oder Sommer? So heißt jetzt die Frage, die über die Zukunft der Schweiz bei dieser EM entscheidet. Krychowiak gewinnt das Nervenduell.

5:4, die Polen sind weiter. Aber sie gewinnen keine Sympathiepunkte. Angeführt von Lewandowski jubeln sie vor dem Schweizer Sektor. Das erzürnt die Fans und Schweizer Spieler, die angesprintet kommen und den Gegner in die andere Platzhälfte treiben.

"Ich habe den Ball extrem schlecht getroffen. Schade, Schade."

Xhaka trottet später auch in die Kurve, Trainer Petkovic tröstet ihn wie die Kollegen vor- und nachher. Eine Stunde später zieht der 23-Jährige den Rollkoffer hinter sich her durch die Interviewzone. Da steht er dann also, an den Ohrläppchen funkelt es, und Xhaka arbeitet voller Sachlichkeit den Nachmittag auf. Vor allem interessiert eines: wie er sein Missgeschick erklärt, den verschossenen Elfmeter. Auf die linke Ecke hat er sich lange vor dem Schuss festgelegt, "aber dann", sagt er, "habe ich den Ball extrem schlecht getroffen. Schade, Schade." Was ihm passiert ist und der Schweiz, das findet er "bitter, wir hätten mehr verdient, aber es gewinnt nicht immer die bessere Mannschaft".

So schön - und doch verlorene Liebesmüh: Xherdan Shaqiri gelingt das (bisher) schönste Tor der EM, ein Seitfallzieher gegen Polen von der Strafraumgrenze. (Foto: Mast Irham/dpa)

Xhaka denkt in diesen Augenblicken nicht nur an seinen Fehlschuss. Sondern auch an die großen und verpassten Chancen, vor allem an jene zwei von Derdiyok in der Verlängerung. Er findet: "Keine Zeit für Vorwürfe, niemand muss sich einen Kopf machen." Und dann fügt er auch noch an: "Fußball ist manchmal blöd. Aber irgendeinmal wird das Glück auf unserer Seite sein. Wir haben eine Zukunft vor uns, in der vieles möglich ist." Dann verabschiedet er sich in die Ferien.

Die andere Schweiz in der zweiten Halbzeit

Xhaka im Elfmeterschießen, Derdiyok in der Verlängerung, vorher schon ausgzeichnete Möglichkeiten. Ja, es hätte für die Schweiz alles so viel anders sein können an diesem schweizerisch-polnischen rot-weißen Tag von Saint-Etienne. Die Mannschaft beginnt zwar ungenügend. Sie ist schon nach wenigen Sekunden und einem missratenen Djourou-Rückpass in größter Not. Sie muss sich in der ersten Phase dominieren lassen, sie kann das Tempo der Polen nicht mitgehen, wird wiederholt überlaufen und ausgespielt. Und wie dann die Polen kurz vor der Pause das 1:0 erzielen, ist typisch. Typisch für die erste Halbzeit. Aber in der Nachbetrachtung auch symbolisch für den unglücklichen Schweizer Tag.

Grosicki reagiert schneller als alle Gegenspieler, nachdem sein Torwart Fabianski den Ball abgefangen hat. Er kontert und hat beim Dribbling Glück, dass ihm der Ball von Behramis Beinen zurück vor die Füße springt. Seinen Pass verwertet Blaszczykowski souverän.

Danach kommt die zweite Halbzeit. Ein ganz anderes Spiel. So wie die Schweizer fast von Minute zu Minute besser werden, wird auch die Atmosphäre im Stade Geoffroy Guichard immer aufregender, werden die rund 10 000 angereisten Schweizer Fans immer lauter. Shaqiri hat die Führung übernommen in der Offensive, endlich, nachdem er in den ersten drei Spielen ungewohnt blass geblieben ist. Unter seinem Drang erarbeitet sich die Schweiz Chancen. Fabianski wehrt einen Freistoss von Rodriguez hervorragend ab, Seferovic trifft die Latte. Und dann schenkt Shaqiri dem Turnier alleine einen großen Moment.

Grimmiger Jubel: Der Schweizer antwortet seinen Kritikern mit einem Kunststück. (Foto: Philippe Desmazes/AFP)

Sein 1:1 in der 82. Minute ist Kunst. Ist das, was den Fussball schön macht und das Volk entzückt. Lichtsteiner, der Rechtsverteidiger, taucht plötzlich auf dem linken Flügel auf. Seine Flanke missrät, doch weil der polnische Verteidiger Pazdan den Ball mit dem Knie abwehrt, wird der Abwehrversuch zur perfekten Vorlage für die Schweizer Nummer 23.

"Sie kennen mich nicht so gut. Ich erziele immer schöne Tore."

Als sich Shaqiri in die Luft legt und alle fasziniert. Ab diesem Moment gehört die Bühne ihm allein. Er hebt ab, legt sich an der Strafraumgrenze quer in die Luft, für Technik und Ästhetik gibt es Bestnoten. Aber es ist nicht nur für die Galerie, sondern auch für die Schweiz. Es ist ein Schuss ins Glück.

"Sehr schön", findet Shaqiri selber ja auch, was ihm gelungen ist, "aber es hat nicht viel gebracht". Als er noch gefragt wird, ob es sein bisher schönster Treffer der Karriere gewesen ist, hat er den Humor wieder gefunden: "Sie kennen mich nicht so gut. Ich erziele immer schöne Tore."

Die Polen haben ab der zweiten Halbzeit nur noch ganz selten lichte Augenblicke. Aber eben, es sind die Schweizer, die am Ende ein heftiges Erlebnis zu verdauen haben. "Ich hätte nie gedacht, dass wir nach Hause reisen müssen", sagt der Technische Verbandsdirektor Laurent Prince, "selbst nach dem verschossenen Elfmeter war die Überzeugung nach diesem starken Auftritt so groß, dass es für uns noch weitergeht."

Eren Derdiyok zieht wortlos davon, einfach weg aus dem Stadion. Valon Behrami hat die Kapuze über seinen Kopf gezogen und Tränen in den Augen. Wieder gescheitert im Achtelfinale, wieder eine Enttäuschung. Shaqiri stellt nüchtern fest. "Das ist Fußball, damit muss man leben können, schade, dass wir nicht belohnt worden sind."

Die Mannschaft fliegt am Samstagabend zurück in ihr Quartier nach Montpellier. Und dann, am Sonntag, ab in die Ferien. Shaqiri sagt noch: "Wir stehen wieder auf."

© SZ vom 26.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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