Die deutsche Fußball-Fieberkurve:Gute Zeiten, schlechte Zeiten

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Bratwürste, Rennmäuse, Tränen an den Stammtischen: Deutschland taumelt in den Jahren vor der WM von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt

Markus Schäflein

20. Juni 2000 - Mit Trainer Erich Ribbeck, der zuvor als Rentner auf Teneriffa gelebt hat, scheidet Deutschland in der Vorrunde der Europameisterschaft gegen eine B-Mannschaft von Portugal aus. Die Nation verfällt in Selbstmitleid, Ribbeck kehrt in den Ruhestand zurück.

2. Juli 2000 - Ruuuuudi Völler wird (zunächst Interims-)Bundestrainer. Die Fans freuen sich, ein zartes Pflänzchen Hoffnung keimt. Jetzt fehlt nur noch die WM im eigenen Land!

6. Juli 2000 - Ein 78-jähriger Neuseeländer macht Deutschland glücklich. Charles Dempsey hat die ganze Nacht nicht geschlafen, weil in seinem Hotelzimmer ununterbrochen das Telefon geklingelt hat; die Lobbyisten Südafrikas und Deutschlands wollten in der Nacht vor der Abstimmung über die Vergabe der WM 2006 den entscheidenden Mann noch auf ihre Seite ziehen. Angeblich haben auch Gerhard Schröder und Nelson Mandela bei Dempsey angerufen; gesichert ist, dass irgendwann ein Fax des deutschen Satiremagazins Titanic unter der Tür hindurchgeschoben worden ist. "Ich fand die deutsche Bewerbung mit Franz Beckenbauer, Boris Becker und Claudia Schiffer nicht sehr überzeugend und dachte mir, ich könnte eigentlich ein paar Bestechungsfaxe aufsetzen. Da habe ich einen Geschenkkorb angeboten mit einer Kuckucksuhr und ein paar guten Würsten", sagt Chefredakteur Sonneborn. Dempsey ist von der Nacht so geschwächt, dass er am nächsten Tag keine Kraft mehr findet, seine Stimme abzugeben. Deutschland gewinnt um genau diese eine Stimme. Die Titanic führt den Erfolg auf ihren Wurstkorb zurück, Dempsey hingegen erklärt: "Es wurde mir von einflussreichen europäischen Interessenvertretern klargemacht, dass eine Wahl von Südafrika nachteilige Auswirkungen für die ozeanische Fußball-Föderation in der Fifa haben würde." Deutschland jubelt.

16. August 2000 - 4:1 gegen Spanien im ersten Spiel unter Völler, je zwei Tore von Mehmet Scholl und Alexander Zickler (!). Deutschland ruft "Rudi, Rudi".

20. Oktober 2000 - Aber Rudi ist nur Interims-Coach, der aushilft, bis Wunschkandidat Christoph Daum sein Amt antritt. In Daums Augen scheint flackernder Siegeswille aufzulodern, aber es stellt sich heraus, dass der irre Blick vielleicht doch eher vom Kokainkonsum herrührt. "Schnupf-Orgien" und "wilde Partys mit Prostituierten" werden Daum vorgeworfen. "Wenn das alles Fakt ist, kann er nicht Bundestrainer werden", sagt Uli Hoeneß, Manager des FC Bayern. Daum unterzieht sich einer Haarprobe - und weist sehr hohe positive Werte auf. Er zieht sich in die USA zurück und fabuliert weiter über seine Unschuld. Der Skandal versetzt die Fußballnation in eine moralische Krise. Völler lässt sich überreden, vom Übergangshelfer zum Teamchef aufzusteigen.

1. September 2001 - Das 1:5 in der WM-Qualifikation gegen England erschüttert die Republik. Nach der Schmach von München überlegen die britischen Zeitungen, wie man auf Deutsch wohl Underdogs (Außenseiter) sagt und erfinden das neue Synonym für die deutsche Nationalelf: "Unterbratwürste."

2. Juli 2002 - Nachdem sich die Unterbratwürste in der Relegation gegen die Ukraine durchgesetzt und auch erfolgreich durch die WM in Japan und Südkorea gewurstelt haben, werden sie Zweiter. Nach ihrer Rückkehr werden sie von über 30000 Menschen in Frankfurt frenetisch gefeiert. "Jetzt gibt es nur noch ein Ziel", jubelt Abwehrwurst Christoph Metzelder, "den Weltmeistertitel 2006!"

6. September 2003 - Enttäuschende Leistungen der Nationalelf gipfeln im 0:0 in der EM-Qualifikation in Island. Nach deutlicher Kritik der ARD-Kommentatoren hält Völler im Interview mit Waldemar Hartmann seine Mist-Käse-Scheißdreck-Rede. Auszug: "Immer diese Geschichte mit dem Tiefpunkt und noch mal 'nem Tiefpunkt, dann gibt's noch mal 'nen niedrigen Tiefpunkt. Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören." Eine Agentur berichtet: "Völler sagte dreimal Scheiß, einmal Scheißdreck und zweimal Käse." Einen Monat später schafft seine Elf die Qualifikation.

23. Juni 2004 - Wieder Vorrunden-Aus bei einer Europameisterschaft, wieder gegen eine B-Elf, diesmal gegen die Reserve Tschechiens. "Ich würde gerne im Grunde vielleicht weitermachen", sagt Völler nach dem Spiel. Am nächsten Tag gibt er bekannt: "Was ich gestern nach dem Spiel nicht gesagt habe, aber im Hinterkopf hatte: Ich werde von meinem Amt zurücktreten. Die Aufgabe der WM im eigenen Land kann nur jemand machen, der unbefleckt ist." Ein Nachrichtenmann auf RTL sagt, dass in Deutschland alles schlecht ist: das Wetter, die Wirtschaft, der Fußball. Düstere Gedanken wabern durch die Medien, ob sich im Fußball nicht der Zustand der ganzen Gesellschaft spiegele: Bewegungsarmut, Denkfaulheit, Dumpfbackigkeit. Bundeskanzler Schröder gibt eine Pressekonferenz und sagt, der Aufbau einer Nationalelf, "die vorne mitmischt", müsse "jetzt im Vordergrund stehen".

1. Juli 2004 - Ob sich jemand findet, der diese Mannschaft trainieren will? Ottmar Hitzfeld, Bundestrainer der Herzen, sagt ab. Im Gespräch sind Rehhagel und ein Loddarmaddäus. Die Deutschen sind irritiert und lassen alle Hoffnung fahren.

29. Juli 2004 - West-Coast-Schwabe Jürgen Klinsmann wird Deutschlands erster vollamerikanisierter Nationalmannschafts-Headcoach und verspricht: "Wir wollen Weltmeister werden." - "So sprechen Amerikaner", schreibt die Berliner Zeitung, "aber jetzt kann er nicht mehr heraus aus der Sache. Mehrere Kameras haben die Szene aufgezeichnet." Willkommen in Deutschland.

8. September 2004 - Im zweiten Spiel unter Klinsmann erreicht die deutsche Elf ein 1:1 gegen Weltmeister Brasilien. Tor: Kevin Kuranyi. Die Fans sind frohen Mutes, Klinsmann stellt fest: "Die Brasilianer kochen auch nur mit Wasser."

Juni 2005 - Die deutschen Spieler rennen beim Confed-Cup durch die Gegend wie Wüstenrennmäuse auf Ecstasy. In Wohnzimmern und Biergärten herrscht der Ausnahmezustand. 4:3 gegen Australien, 2:2 gegen Argentinien, 4:3 gegen Mexiko. Noch ein Tor, noch ein Bier. Noch ein Gegentor? Noch ein Bier. Ist das noch unsere Mannschaft? Kann nicht sein, das Zuschauen macht ja Spaß! "Man sieht an der Körpersprache das neue Selbstbewusstsein der Spieler", meint Michael Ballack, DFB-Präsident Mayer-Vorfelder findet "definitiv alles besser als vor Klinsmann", und die Firma BBDO Consulting analysiert mit Prof. Dr. Christoph Burmann vom Lehrstuhl für innovatives Markenmanagement der Universität Bremen, dass plötzlich wieder 77,2 Prozent der Deutschen an "eine große Begeisterung in der deutschen Bevölkerung" während der WM glauben. Nur Torwart Kahn ist sauer über seine rennmausmäßigen Vorderleute. "Wenn ich das von hinten sehe, stehen mir die Haare zu Berge. Wir rennen immer nur nach vorne, das ist Kamikaze. Aber hier wird alles von dieser Confed-Cup-Euphorie übertüncht."

3. September 2005 - 0:2 in der Slowakei. "Schade, dass wir uns wieder an frühere Zeiten gewöhnen müssen", sagt Kaiser Franz. Das Ausland hat Mitleid. Die Neue Züricher Zeitung stellt fest: "Allmählich registriert auch Klinsmann, dass die Euphorie, entfacht durch Auftritte im Hurrastil, dahin ist; er ist auf dem Weg zur WM nicht viel weiter gekommen als sein Vorgänger Völler." In Deutschland sind die Fans irritiert, aber noch nicht verzweifelt: War wohl nur ein Ausrutscher. Schließlich sagt Klinsmann, er rücke "in keinster Weise" von seinem Ziel ab: Weltmeister werden.

1. März 2006 - "Italia quattro, Germania uno. Buona notte!", ruft der Stadionsprecher in Florenz. 1:4 in Italien, schon nach sieben Minuten 0:2, das Spiel hätte auch 1:8 ausgehen können. "Das System Klinsmann wurde als naiv und ungeeignet enttarnt", meint die Deutsche Presse-Agentur. Die Bild-Zeitung druckt Klinsmanns Kicher-Zitat: "Wir glauben an diese Jungs, auch wenn es mal schlecht läuft. Und heute lief es schlecht, richtig schlecht... kicher-kicher... und da stehen wir jetzt dazu, kein Problem, kicher-kicher." Die Bild fragt empört: "Verdammt, was gibt es da noch zu kichern, Klinsi?" Der Trainer ist verwirrt: "Einen Tag heißt es, ich würde zu viel lachen, dann wieder, ich sei ein ungehobelter Sturkopf." Die Bild kontert: "Grinsi-Klinsi! Mit dir ist unsere Nationalmannschaft nur noch zum Weinen." Noch 100 Tage bis zur WM (im eigenen Land!). Und Deutschland weint. Klinsmann sei "ein Einzelgänger, mehr Guru als Stratege, der erfahrene Spieler wegmobbt und junge verunsichert. Ein Anfänger und ein Besserwisser - eine gefährliche Mischung", heißt es an den Stammtischen. Und in der Zeitschrift Focus, im Tagebuch von Chef Helmut Markwort.

1. April, äh, 15. Mai 2006 - Wer is'n das? Gestatten, Odonkor. Nominiert für die Nationalelf von - Deutschland. Wegen Rennmausfaktor 100. Odonkor kennen viele gar nicht, damit hat er einen Vorteil gegenüber Mike Hanke. Den kennen nämlich alle, und keiner findet ihn gut. Dafür dürfen Owo (laut Werder Bremen "offizieller Spitzname" für Patrick Owomoyela), Kevin und der beliebte Scholli nicht mit. Die Fans stehen vor einem Nervenzusammenbruch, erfinden den neuen (inoffiziellen) Spitznamen "Blindi-Klinsi". Auf die Frage "Glauben Sie, dass Deutschland mit diesem Kader Weltmeister wird?" antworten bei einer Umfrage nur noch sieben Prozent mit Ja, dafür rechnet ein Drittel mit einem Vorrunden-Aus gegen Polen, Ecuador und Costa Rica und mit einer Klatsche im Freundschaftsspiel gegen Luckenwalde.

6. Juni 2006 - Die WM-Beilage der Süddeutschen Zeitung erscheint. Alle singen "Love Generation", stellen Bier kalt, freuen sich auf die Welt, die zu Gast ist, streicheln ihre Goleos und sehen die deutschen Chancen endlich realistisch: "Keine Ahnung."

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