DFB-Elf vor WM-Qualifikation:Männer ohne Gedächtnis

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Mit besonderen Maßnahmen betreibt Bundestrainer Löw die Einstimmung auf das Russland-Spiel. Erst einmal müssen drei Profis auf die Tribüne.

Philipp Selldorf

Während für die Partie gegen Wales am Mittwoch in Mönchengladbach noch 5000 Eintrittskarten zu haben sind, ist das WM-Qualifikationsspiel gegen Russland am Samstag zuvor in Dortmund seit längerem ausverkauft. Tickets gibt es nur noch auf dem Kleinanzeigenmarkt (zum Beispiel Unterrang Block 62, pro Stück 89 Euro) - oder, für ausgewählte Gäste, direkt beim Bundestrainer. Am Freitagabend wird Joachim Löw mit seinen Beratern entscheiden, welchen Spielern er einen Platz auf der Tribüne bescheren wird. Die Karten sind gratis und garantieren beste Sicht aufs Feld, und trotzdem will sie keiner haben. "Auf der Tribüne ist es, glaube ich, nicht so interessant", spricht der Schalker Jermaine Jones aus leidvoller Erfahrung.

Der Herr in Rot ist der Animateur: Joachim Löw bei taktischen Anweisungen (Foto: Foto: Getty)

Von den 21 Männern, die Löw berufen hat, dürfen elf spielen und sieben auf der Ersatzbank sitzen. Drei sind daher zum Nichtstun verurteilt, positionsbedingt gehört Jones neben dem dritten Torwart Tim Wiese zu den führenden Anwärtern auf den Platz am Katzentisch. In der überlieferten Hierarchie stehen Ballack, Frings, Rolfes und Hitzlsperger über ihm. Allerdings hat Jones bis Freitagabend noch mehrmals Gelegenheit, sich durch starke Trainingsleistungen zu empfehlen, denn für diese zwar noch nicht entscheidende, aber elementare Begegnung der beiden Gruppenfavoriten hat sich Löw eine dramatische Geste ausgedacht.

Er hat den Tag Null ausgerufen, was bedeuten soll, dass nach seinem Willen elf Männer ohne Geschichte und ohne Gedächtnis den Platz betreten werden, die wie Maschinen nur ein einziges Programm kennen: Russland zu besiegen. "Wenn wir am Samstag in Dortmund durch den Gang ins Stadion kommen, dann dürfen die Spieler nicht mehr wissen, bei welchem Verein sie spielen und welches Auto sie fahren", sagt Löw und wünscht "absolute Konzentration auf die 90 Minuten".

Keine Garantie für Ballack oder Enke

Im Bann dieser sturen Prämisse weigerte sich der Bundestrainer am Mittwoch sogar, die als selbstverständlich erwartete Einsatzgarantie für Kapitän Michael Ballack auszusprechen. Auch für Torwart Robert Enke gab es kein erlösendes Wort: Über die Besetzung im Tor habe man "noch nicht gesprochen", meinte Löw, "die Entscheidung ist noch nicht gefallen".

Im Fall Ballack, vermutlich auch im Fall Enke, handelt es sich wohl um einen rhetorischen Kniff des Bundestrainers, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Ballack wird, solange er bis Samstag gesund bleibt, seinen Platz als Fixpunkt im Mittelfeld einnehmen, aber den Hinweis sollte er trotzdem ernst nehmen. Fragen nach dem aktuellen Stand des immer noch im Untergrund schwelenden Konfliktes zwischen Ballack und Teammanager Oliver Bierhoff hatte Löw am Dienstag ärgerlich zurückgewiesen, die Sache geht ihm erkennbar auf die Nerven. "Ich will kein Thema Bierhoff/Ballack haben", hat er gesagt und wirkte dabei wie jemand, der sich die Ohren zuhält, weil er genug hat vom hässlichen Lärm. Für Nebengeräusche aller Art stellt sich Löw bis Samstagabend taub.

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Ob Lukas Podolski bei den Bayern ein schweres Leben hat, weil er nicht mitspielen darf und von Karl-Heinz Rummenigge kritisiert wird - Löw will es nicht wissen. Ob einer seiner Nationalspieler im Verein zu viel oder zu wenig spielt - Löw kümmert sich nicht drum. "In dieser Woche interessiert mich nicht, was in Schalke, Bremen oder München los ist", sagt er, "ich spreche mit den Spielern nur über Russland."

Eine Art Endspielstimmung will er in seinem Kader schaffen, und dafür hat Löw das Leistungsprinzip zum einzigen Maßstab erklärt - nicht zum ersten Mal zwar, aber diesmal möglicherweise mit der gebotenen Konsequenz: "Ich werde jeden einzelnen Spieler im Training genau beobachten", kündigte Löw an. "Die Spieler müssen körperlich und mental für Russland 100 Prozent bereit sein. Wer das nicht bringt, wird nicht von Anfang an auflaufen."

Niederlage oder Remis wäre prekär

Prominentenruhm ist unter diesen Vorzeichen vergänglich: Dem Stammverteidiger Per Mertesacker, nach längerer Verletzung noch nicht in Bestform, hat Löw die Warnung zukommen lassen, dass "noch ein paar Prozent fehlen" zur alten Verlässlichkeit, und Mertesackers Turnier-Partner Christoph Metzelder hat die Zeichen der Zeit selbst erkannt. Er hat sich vorsorglich abgemeldet - bevor er von der Einladungsliste gestrichen würde.

Die Partie gegen den härtesten Gruppenrivalen, den er qualitativ auf einer Höhe mit dem Europameister Spanien sieht, ist eine Prüfung mit hohem Gefahrenpotential. Als Löw im Sommer bei der EM mit seiner Elf im finalen Gruppenspiel gegen Österreich bestehen musste, sah sich der DFB-Präsident zuvor genötigt, den Arbeitsplatz des Bundestrainers zu garantieren.

Zu einer solchen Aussage wird sich Theo Zwanziger diesmal nicht animiert fühlen, der Anlass ist weniger prekär, aber die Perspektive ist allemal brisant. Eine Niederlage, selbst ein Remis würde die Aussicht auf den Gruppensieg und damit auf die Teilnahme an der WM in Südafrika deutlich verengen. "Im Moment mache ich mir keine Sorgen", sagt Löw. Die Abwesenheit von akutem Kummer ist jedoch nicht mit Gelassenheit zu verwechseln.

© SZ vom 09.10.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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