Deutschland-Italien:Der Zugpferdefuß

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Kapitän Kahn schimpft vor dem Italien-Spiel über fadenscheinige Absagen - auch Deisler vermisst er.

Philipp Selldorf

(SZ vom 20.8.2003) - Die Sportschule Ruit in Ostfildern, Unterkunft der Nationalmannschaft vor dem heutigen Testspiel gegen Italien (20.45 Uhr/ ZDF), hat Fußballern viel zu bieten. Drei Rasenplätze zum Beispiel, ein beheizbares Kunstrasenfeld, ein Lehrschwimmbecken (15 m x 8 m) und eine Schießanlage. Zumindest was die Fußballkapazitäten angeht, handelt es sich allerdings um verschwendeten Luxus.

Ein einziges Training ließ Rudi Völler am Montag Vormittag geschehen, eine zweite Runde folgte gestern Abend vor Publikum im Daimler-Stadion, und beide Übungsprogramme zeichneten sich vor allem durch die schonende Beanspruchung der Bundesligastars aus. Der Teamchef scheut das Verletzungsrisiko verschärften Trainings und ist schon froh, dass er wenigstens die Spieler, die ihm geblieben sind, vollzählig zum Dauerlauf versammeln darf. Dankbar registrierte er, dass sich die angeschlagenen Kehl und Baumann anschließen konnten, "denn weitere Ausfälle hätten wir wirklich schlecht verkraften können."

Aufstellung gerät zum permanenten Krisenmanagement

Zumindest Baumann hat seinen Platz im Team sicher, als Teil der Abwehrreihe mit Rau, Hinkel und Wörns, die den italienischen Traumsturm mit Vieri, Totti und Del Piero stoppen soll, was ein ziemlich bedenkliches Aufeinandertreffen von klingenden mit weniger klingenden Namen ergibt. Die Lage ist also wieder mal ernst und passt nicht recht zu der Vorfreude auf ein Spiel, über das Jens Jeremies sagt: "Ein Klassiker und für jeden Spieler was Besonderes, da mitmachen zu dürfen."

Doch gesprochen wird in Stuttgart vor allem über diejenigen, die nicht da sind. Mindestens acht Spieler fehlen, darunter mit Ballack, Frings und Hamann drei Viertel des gefeierten WM-Mittelfeldes, weshalb nun ein großes Rätseln und Räsonieren herrscht, warum bei jedem Länderspiel aufs Neue die Aufstellung zum permanenten Krisenmanagement gerät. Eine konstante Entwicklung, das haben die Länderspiele der vergangenen Saison bewiesen, lässt sich mit diesen Mitteln kaum verwirklichen.

Darüber hat sich nun auch Kapitän Oliver Kahn Gedanken gemacht (auf dem Bett seines Zimmers liegend, wie er erzählte), und das Resultat dieser inneren Einkehr erzeugte eine allgemeine Unzufriedenheit, die er in einem ebenso allgemeinen Appell an die Beteiligten formulierte. Kahn äußerte die Überzeugung, man müsse die Misere als "philosophische Frage" angehen, woraufhin er sich dann in Schwung schimpfte über "Absagen wegen fadenscheiniger Gründe" und über Kollegen, die nicht zum Länderspiel erscheinen, "weil der Zeh im linken Fuß weh tut". Er klagte auch die Vereine an, die auf eben jene Kollegen mit dem Schmerz im Zeh des linken Fußes Druck ausübten, zu Hause zu bleiben, und verlangte von den Kluboberen anzuerkennen, "dass die Nationalmannschaft das Zugpferd des deutschen Fußballs ist."

"Lamentieren hilft nichts"

Das alles ist Ausdruck der berechtigten Sorge, dass die Nationalmannschaft einen systematischen Aufbau vermissen lässt, doch beruht der Vorstoß eher auf einem emotionalen Trauma als auf klarer Analyse. Der Torwart möchte "nie wieder ein Debakel erleben wie bei der EM 2000". Bei Länderspielen in der Ära Ribbeck suchten die Spieler in der Tat ihr Heil in der Fahnenflucht. Aber heute? Um seinen philosophischen Ansatz zu illustrieren, verwies Kahn auf die brasilianische Nationalelf, deren Spieler selbst dann auf Reisen gingen, "wenn sie den Kopf unter dem Arm tragen".

Nur, welche deutschen Spieler sollten humpelnd seinem Aufruf folgen? Außer Ballack, dessen Genesung am Wadenmuskel solche Fortschritte macht, dass ihn Trainer Ottmar Hitzfeld zur Alternative erklärte fürs Personal des Punktspiels am Sonntag, oder Arne Friedrich, dem Hertha-Manager Dieter Hoeneß Schonung befohlen hat, kommt nur noch Sebastian Deisler in Frage. Dessen Fall ordnete Kahn unter jene ein, "die abgestimmt werden müssen zwischen den Vereinen und dem Rudi". Er hätte Deisler gern jetzt schon eingereiht ins Aufgebot und sieht sich dabei einig mit Franz Beckenbauer. Der stellte, wieder mal auf Kontrakurs zu seinen Vereinskollegen Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß, fest: "Ich bin nicht der Meinung, dass Deislers Comeback zu früh gekommen wäre."

Rudi Völler verfolgt diese Debatte schulterzuckend. "Lamentieren hilft nichts", sagt er. Sein Realismus hat ihn bescheiden gemacht. Die Idee, "die wichtigste Mannschaft Deutschlands" (Rummenigge) zu weiteren Lehrgängen zu versammeln, um programmatisch mit ihr zu arbeiten, ist nach dem Empfinden der Beteiligten nur schöne Illusion. So bleibt das einzige Programm im Hinblick auf die EM 2004 die Improvisation. Trainiert wird später.

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