Deutsche Turner bei der WM:Am Reck nur noch Gast

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Einziger Deutscher im Mehrkampffinale: Philipp Herder aus Berlin. (Foto: Amy Sanderson/ZUMA Press/imago)

Die Qualifikation in Montreal zeigt: Das Männerteam turnt fürs Erste nur im besseren Mittelmaß.

Von Volker Kreisl, Montreal/München

Der heimliche Star des deutschen Turnens wartete immer geduldig auf seinem Platz, meist rechts vor der Haupttribüne, auf seinen Auftritt. Gefühlt zählte er schon immer zum Team der Männer, hatte sich aber nie aufgedrängt. Das hatte er nicht nötig, wie selbstverständlich brachte er Medaillen ein, bot die spannendsten Wettkämpfe, die aufregendsten Figuren und Flüge, und die süffigsten Geschichten wie zuletzt beim Olympiasieg in Rio. Denn auch da wartete rechts unten der Hauptdarsteller, als Abschluss der Turn-Wettkämpfe, schlank, erhaben, metallisch glänzend: das Reck.

Gewonnen, klar, hat dieses Gold Fabian Hambüchen, aber das Reck galt schon lange zuvor als deutsches Gerät. Eberhard Gienger kreierte in den Siebzigern den Gienger-Salto, und im vergangenen Jahrzehnt drehten und überschlugen sich außer Hambüchen auch Philipp Boy, Andreas Toba, Eugen Spiridonow und Andreas Bretschneider kunstvoll am Reck. Oft kamen gleich zwei Deutsche ins Finale, stets brachte es sichere Punkte in Qualifikationen. Doch nun, bei der WM in Montreal, erreichte keiner der Endkampf, am Sonntag schauen die Deutschen zu.

Es wirkt zurzeit so, als sei mit dem 29-jährigen Hambüchen auch das deutsche Reck vom internationalen Turnen zurückgetreten. Und wie es so ist, nach dem Abgang eines entscheidenden Team-Mitglieds: Man rutscht ins obere Mittelmaß. Nach der Qualifikation am Dienstag erreichte das Männerteam von Bundestrainer Andreas Hirsch ungewöhnlich knapp gerade noch zwei Finals. Marcel Nguyen, 30, könnte, falls er anders als seine Gegner einen perfekten Tag erwischt, eine Medaille holen. Und Philipp Herder, 24, wird als Siebzehnter des Vorkampfs im Mehrkampffinale am Donnerstag höchstens etwas internationale Erfahrung sammeln. Dabei geht es bei der Planung dieser Riege gerade nicht um die aktuellen Tage oder Wochen. Auch nicht um die Monate, in denen Verletzungen verheilen, wie kürzlich erst der berühmte Olympia-Kreuzbandriss von Andreas Toba. Oder - noch lange nicht - der Kreuzbandriss des derzeit besten deutschen Turners, Lukas Dauser. Kalkuliert werden muss vielmehr in Jahren, denn diese Mittelmaß-Phase des Männerturnens wird sich bis nach den Olympischen Spielen 2020 in Tokio erstrecken, erst dann könnten wieder Spitzenkräfte in Sicht sein. Umso wichtiger ist es, dass Trainer Hirschs Riege nicht vom Mittelmaß ins Unbedeutende driftet. Für dieses Unterfangen sollte erstens seine Mannschaft im Team-Wettkampf, der in Montreal nicht auf dem Programm steht, möglichst unter den besten Acht bleiben. Zweitens braucht Hirsch Turner, die an etwas glauben, also Typen wie Andreas Bretschneider.

Andreas Bretschneider landet in der Matte. Aber "es geht weiter"

Der hätte in Montreal soeben ins Finale einziehen können, aber er verfehlte die Stange und landete mal wieder in der Matte. Nur, er glaubt halt an sich selbst, weshalb er mal wieder sagte: "Es geht weiter." Schon immer war das sein Motto. Weil Bretschneider von Natur aus einen kantigen und weniger dehnbaren Körper hat, weil er mit Eleganz nicht punkten kann, verlegte er sich bald auf die Flugshow am Reck. Irgendwann brachte er sein eigenes Element zur Aufführung: einen Doppelsalto mit doppelter Drehung über die Stange, genannt Bretschneider. Bei Olympia in Rio versuchte er die noch riskantere, nämlich gestreckte Variante, stürzte und kündigte an, er komme wieder. Im Winter ließ er sich zwecks Beweglichkeit beide Schultern operieren, flog nun mit Trainingsrückstand in Montreal wieder vom Reck, hinterlegte aber vor der Heimreise: "Im nächsten Jahr bin ich wieder voll da."

Es geht also weiter. Wie bis zuletzt Hambüchen oder Boy, so ist es jetzt Bretschneider, der den Junioren an den Stützpunkten Lust machen könnte auf das Hoch-Gerät. Hirsch braucht einen verwegenen Topturner, ein Vorbild, das die Jüngeren lockt. Denn am Reck könne man nicht einfach eine Trainingsoffensive starten, wenn die Schüler nicht von selbst die Kaltschnäuzigkeit mitbringen, die man in der Luft braucht. Hirsch fördert lieber die Vielfalt. Im Team gibt es nach Jahren wieder zwei respektable Turner am Pauschenpferd: Toba und Ivan Rittschik. Der Chemnitzer WM-Debütant steht aber noch am Anfang. Seine Pferdübung hatte mit 6,4 Punkten zwar den dritthöchsten Ausgangswert der WM, doch das nutzte nichts, weil er mit den Beinen hängen blieb und Abzüge erhielt.

Womöglich hätten die Planer im Deutschen Turnerbund besser vorsorgen können. Hambüchen, Boy und Nguyen hatten bald den Beinamen Goldene Generation, neben der wohl manches Talent keinen Platz mehr für sich sah und aufgab. Doch die im Schatten haben stets auch eine Perspektive, sie ist nur langfristig. Im Frauenteam, das gerade einen Aufschwung hat und in der Nacht zum Donnerstag deutscher Zeit in die Qualifikation ging, bemüht man sich schon jetzt um die nächste Generation.

Männertrainer Hirsch dagegen muss einen längeren Neuaufbau versuchen in diesem zeitintensiven Sport, in dem jeder Athlet andere Stärken und Lieblingsgeräte hat und sein persönliches Maß an Zeit braucht. Der oberste Turn-Trainer muss das trotz des Drucks einer Sportpolitik schaffen, die neuerdings per Reißbrett Erfolg plant - das heißt: Medaillen. Hirsch will sich nicht irritieren lassen, sondern "weitermachen". 15 Jahre lang, sagt er, habe man sehr gute Arbeit geleistet, "jetzt hüpfen wir mal unter der Latte durch".

© SZ vom 05.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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