Deutsche Elf in der Einzelkritik:Ein Automat und viele Akrobaten

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Neuer wird beim Lesen gestört, Boateng sucht vergeblich nach Gegenspielern, Kroos verteilt tausend Bälle und Gündogan ist auch ohne Ball gefährlich.

Von Carsten Scheele und Philipp Selldorf

Manuel Neuer: Irgendwo stand geschrieben, Manuel Neuer hätte gegen die Tschechen in Hamburg während der 90 Minuten ein Buch lesen können, so beschäftigungslos wirkte er. Hätte der Kapitän gegen die Nordiren Ähnliches vorgehabt - er wäre nicht weiter als bis zu Seite fünf gekommen. Wurde mitunter aus seinem Ruhemodus gerissen, musste in der ersten Halbzeit sogar zwei ernst gemeinte Schüsse abwehren und einmal einen seiner berüchtigten Libero-Ausflüge unternehmen - auch diese Aufgabe erledigte Neuer, wenn auch etwas holprig. In der zweiten Hälfte konnte er doch wieder sein Buch hervorholen.

Joshua Kimmich: Von Löw erneut als Rechtsverteidiger zweckentfremdet, obwohl er es beim FC Bayern regelmäßig zu Torjäger-Ehren bringt. Wurde nach wenigen Minuten von seinem Gegenspieler zu Boden gestampft, fand in der Folge aber mehr Räume für seine Vorstöße. Von den Kollegen immer wieder zielbewusst freigespielt, bekam er regelmäßig Gelegenheit, sein Talent für gefühlvolle Flanken vorzuführen. Immer im Dienst der Sache unterwegs, immer gut zu gebrauchen.

Jérôme Boateng: Suchte anfangs eifrig, fand aber einfach keinen Nordiren, der sein Gegenspieler sein wollte. So trieb sich Boateng auffällig häufig in der Spielfeldmitte herum. Am 1:0 durch eine schicke Balleroberung an der Außenlinie samt schnellem Abspiel maßgebend beteiligt. Der Abend hielt dann aber doch einige Mühen für ihn bereit, vor allem, wenn der wendige Jamie Ward seinen Weg kreuzte.

Mats Hummels: Auch er hatte mit dem Angriffsduo Ward/Magennis Mühe, war immer wieder mit dem Erhaschen nordirischer Steilpässe beschäftigt, was er aber zuverlässig und fehlerlos erledigte. Am 1:0 mit beteiligt, als er den Ball mit dem Kopf zum Fünfmeterraum schaufelte, wo Khedira das einstudierte Manöver vollendete.

Ballverteilungsmaschine: Toni Kroos. (Foto: Carmen Jaspersen/dpa)

Jonas Hector: Nahm seine Tätigkeit als Linksaußen gewissenhaft wahr wie immer. Da die Nordiren, wenn sie angriffen, es meist durch die Mitte versuchten, verlegte Hector sein Beschäftigungsfeld nach vorne auf die Außenbahn. Wurde dort von den Kollegen jedoch ab und zu übersehen. Über den Status der Not- und Kompromiss-Lösung ist Hector längst hinaus.

Sami Khedira: Hatte sich auf einen ruhigen Dienstagabend in einer kuscheligen Decke auf der Reservebank eingestellt, da ja eigentlich Ilkay Gündogan für die Startelf vorgesehen war. Doch Löws Täuschungsmanöver ging auf, er brachte trotzdem Khedira, der sich mit dem 2:0 gleich nützlich machte - und nützlich blieb.

Toni Kroos: Der Automat im deutschen Team. Zog im Mittelfeld mindestens tausend Zuspiele an, um sie gleich wieder sinnvoll zu verschicken. Tat dies dermaßen blitzschnell, dass kaum ein Nordire einmal dazwischenkam. Vielleicht sahen sie Kroos nicht einmal, sondern fragten sich, wie der Ball nun schon wieder so rasant von A nach B gekommen war. Gegen die Tschechen noch als Torschütze gebraucht, weil die Kollegen nicht trafen. Diesmal verfehlte sein Scharfschuss knapp das Ziel.

Mesut Özil: Machte im Prinzip dort weiter, wo er in Hamburg aufgehört hatte. Nicht ganz so schöpferisch, aber allemal effektiv und zielgerichtet. Wurde für 135 gute Länderspiel-Minuten mit dem vorzeitigen Feierabend zur Halbzeit belohnt.

Julian Draxler: Wie schon in Hamburg hatten Klaus Allofs und Dieter Hecking zwiespältige Gefühle, als sie Julian Draxler im schwarz-weißen Nationaltrikot zuschauten. Warum macht er so was nicht, wenn er bei uns in Wolfsburg sein grün-weißes Hemdchen trägt?, dachten sich VfL-Manager und VfL-Trainer. Draxler trieb auch in Hannover über die linke Seite die Übersteiger-Quote in die Höhe. Zog immer wieder mit Tempo in die Mitte und brachte damit Unruhe in die nordirische Deckung. Mal suchte er dann die Lücke für den Pass, mal brachte er sich in Schussposition - in der 13. Minute mit dem bestmöglichen Erfolg: Schnelle Drehung, perfekter Schuss - 1:0. Hatte eine tragende Rolle im niemals endenden Fluss des deutschen Pass-Spiels.

Kreativzentrale der zweiten Halbzeit: Ilkay Gündogan (links). (Foto: Carmen Jaspersen/dpa)

Thomas Müller: Machte sich trotz ständiger Umzingelung mit großem Bemühen nützlich. Lief und lief und lief und verließ, um den vielen Verfolgern zu entgehen, auch häufig sein Stammrevier auf der rechten Seite. Legte seinen Mitspielern manchen Ball vor, kam selbst aber diesmal nicht wie erhofft zum Abschluss.

Mario Götze: Nach ein paar Minuten mag sich Jogi Löw gewünscht haben, dass anstelle seiner falschen Neun der richtige Mario (Gomez) auf dem Platz gewesen wäre. Von Thomas Müller präzise bedient, von einem knappen halben Dutzend Nordiren allein gelassen, durfte Götze einen Kopfball platzieren, von dem echte Mittelstürmer träumen. Aber der Dortmunder ist nun mal kein echter Mittelstürmer. Ohnehin war seinen Taten wenig Glück beschieden, viele Aktionen endeten in Ballverlusten. Als er nach 20 Minuten einen vielversprechenden Konter mit einem Fehlpass sabotierte, sah sich der Bundestrainer zur demonstrativen Rüge genötigt.

Ilkay Gündogan: Übernahm zur Pause die Kreativzentrale von Özil. Mit ihm stieg das Artistenniveau noch einmal: Hatte sich als erste Amtshandlung einen schicken Seitfallzieher überlegt, der allerdings geblockt wurde. Mal streichelte er den Ball, mal ließ er ihn einfach nur durchzischen und machte ihn so gefährlich. Mit Ball kann jeder zaubern, Gündogan kann's auch ohne. Verpasste das 3:0 aber eher unartistisch.

Skhodran Mustafi: Auserkoren, um Boateng nach 160 Länderspiel-Minuten ein Päuschen zu bescheren. Erledigte den Job mit weniger Offensivdrang und blieb brav hinten, wo Boateng mit seinen langen Beinen längst nach vorne gestelzt wäre.

Kevin Volland: Endlich wieder ein Kevin. Für Hector eingewechselt.

© SZ vom 12.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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