Der Flügelflitzer:Ein neues Kopf-Problem

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Jansen, Kuranyi, Toni, Ballack: Der Fußball bringt Verletzungen an bislang kaum bekannten Körperteilen zum Vorschein. Neu in Mode ist das Wadenbeinköpfchen.

Thomas Hummel

Vorneweg eine beunruhigende Nachricht: Auch das Schienbein hat einen Kopf.

Dieses vermaledeite Köpfchen: Luca Toni musste ein paar Spiele aussetzen, weil er eine diffizile Verletzung am Knie hatte. (Foto: Foto: dpa)

Man muss sich in diesen Wochen fragen, warum es dieser Schienbeinkopf noch nicht in die Schlagzeilen geschafft hat. Ja, warum er in der breiten Masse der Fußballfans noch völlig unbekannt ist. Sein kleiner Bruder, der Wadenbeinkopf, der hat es geschafft. Der gelangte zuletzt zu nicht geringer Berühmtheit, weil er binnen weniger Wochen gleich bei mehreren Größen des Spiels nicht mehr schmerzfrei arbeiten wollte. Marcell Jansen, Kevin Kuranyi, Luca Toni - sie alle konnten ihrem Beruf nicht mehr nachgehen, weil sie am Wadenbeinkopf (auch gerne Wadenbeinköpfchen genannt) lädiert waren.

Aber auch hier stellt sich die Frage: Was hat dieses Wadenbeinköpfchen so lange getrieben, bevor es endlich einmal schmerzte?

Vermutlich ist es so, dass die stählernen Generationen des vergangenen Jahrhunderts das niedlich klingende Knochenende als Krankheitsgrund schlicht abgelehnt hätten. Einer wie Franz Beckenbauer hätte zu seiner aktiven Zeit wohl erwidert: Was fehlt ihm? Das Köpfchen macht Aua? Dann spielen wir ihm zu Liebe heute flach.

Geht man noch ein Jahrhundert zurück, so wären Jansen und Toni wohl kopfüber in der eiskalten Isar gelandet (im Fall des Schalkers Kuranyi im Rhein-Herne-Kanal), weil da gerade ein kerniger Kerl namens Sebastian Kneipp mit seiner Wasserkur als Wunderheiler verehrt wurde. Und was gegen die Cholera hilft, kann für das Wadenbeinköpfchen nicht verkehrt sein.

Es ist eine Mischung aus ärztlicher Prophetenneigung und der zunehmend detailversessenen Neugier einer Informationsgesellschaft, die es neuerdings aber ganz genau wissen will, warum die Helden am Spieltag auf der Tribüne sitzen, statt unten zu dribbeln. Verletzungen gehören zum Profisport wie der Ball, bei Vereinen wie derzeit dem VfB Stuttgart nimmt die Aufzählung der Kranken in der Pressekonferenz mehr Raum ein als die Taktik zum kommenden Spiel. Der gute alte Muskelfaserriss oder die -zerrung haben zwar keineswegs an Bedeutung eingebüßt, doch oft fragen wissensdurstige Reporter: "Was fehlt dem Jungen genau?" Die Antwort müssen sie sich dann dreimal buchstabieren lassen.

Das Wadenbeinköpfchen tritt in diesem Sinne die Nachfolge der Syndesmose und des Schultereckgelenks an. Und neue Körperteile beziehungsweise Verletzungsarten drängen bereits nach vorne. Nach haargenauer Untersuchung stellte sich beim Bielefelder Petr Gabriel offiziell heraus, dass er an "einer Fissur im Mittelfuß" leidet. Für alle, die jetzt vor Schreck kaum atmen: Nein, mit den Haaren hat das nichts zu tun. Kollege Thomas Hitzlsperger meldete an gleicher Stelle ein "Ödem", und auch hier kann Entwarnung gegeben werden: Es ist nicht ansteckend.

Ebenso interessant sind die neuesten Meldungen aus München, nach denen Herrn Ribery "eine Verhärtung in der Kniekehle" am Tricksen hindert, während 1860-Jüngling Sven Bender eine "Subluxation" der Schulter erlitt. Wobei man sich bei all diesen Fissöden und Kniebluxen fragt, wieso das zu Spielpausen führt, während Danny Schwarz mit Rippenbruch plus Nasenbeinbruch auch heute Abend im Pokal gegen Mainz wieder auf den Platz läuft. Hey Leute, da ist was GEBROCHEN! Hier ein Brustring mit Carboneinlage, da eine Gesichtsmaske mit 1860-Aufkleber, und weiter geht es. Das ist alte Schule. Aber Schwarz ist ja auch schon über 30.

Ausdrücklich ausgenommen von irgendeinem (natürlich altertümlichen, nichtwissenden und auch ignoranten) "Weichei"-Verdacht sind übrigens Profis wie der Brasilianer Lucio (der in Berlin spielt), der einwandfrei und selbst nach ältester Schule die Berechtigung seines Fehlens nachgewiesen hat. Lucio erlitt im Knie einen Riss des Kreuzbandes, der Patellasehne, des Innenbandes und des Meniskus. Als er nach der Operation seine Mannschaftskollegen beim Spiel besuchte, führte die Belastung zu einer Blutansammlung im Knie, der arme Lucio musste nochmals unter das Messer.

Immerhin sind das klare Aussagen, damit kann man was anfangen! Daran sollte sich einer wie Michael Ballack ein Beispiel nehmen. Der Nationalspieler fehlt seit Wochen, doch niemand weiß so recht, warum. Am Anfang haben die Londoner Ärzte gezweifelt, ob denn eine Operation nötig sei. Dann hieß es aus München, die Londoner hätten die Verletzung unterschätzt. Dann gab es einen Aufschrei in Deutschland, als Chelsea Ballack nicht für die Champions League nominierte, doch heute kann er immer noch nicht trainieren. Was genau den Mittelfeldspieler plagt, kommt nur in Bruchstücken an die Öffentlichkeit. Nichts Genaues weiß man nicht.

Er wird doch nicht? Nein, das Wadenbeinköpfchen liegt an dem Ende des Knochens, das dem Knie am nächsten ist. Ballack hat eindeutig eine Knöchelverletzung. Und außerdem erhält dieses Köpfchen ohnehin zu viel Aufmerksamkeit. Bei Luca Toni hat man es schließlich entlarvt. Das Köpfchen war nämlich gar nicht das Problem, stattdessen litt der Italiener lediglich "an einem Faserriss an der rechten Bizeps-Sehne am Wadenbeinköpfchen".

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