Chancen-Ungleichheit:Weshalb Frauen Männer niemals einholen werden

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Physiologische Faktoren machen es für Frauen unmöglich, an die Leistungen männlicher Athleten heranzukommen.

Von Constance Holden

Als Paula Radcliffe über die Ziellinie lief, begann wieder das Getuschel. In knapp 135 Minuten hatte die britische Läuferin den Londoner Marathon 2003 gewonnen, fast zwei Minuten schneller als bei ihrem Sieg ein Jahr zuvor. Könnten Frauen, fragten sich die Zuschauer, eines Tages womöglich gegen Männer antreten?

Im Marathon holen Frauen noch immer auf. (Foto: Foto: dpa)

Brian Whipp und Susan Ward von der University of California in Los Angeles glauben daran. Sie haben schon 1992 in der Fachzeitschrift Nature einen Artikel mit dem provokanten Titel "Laufen Frauen bald schneller als Männer?" veröffentlicht. Darin haben sie die Weltrekorde in fünf olympischen Laufdisziplinen analysiert. Ihren Berechnungen zufolge verbesserten Frauen ihre Zeiten auf den Kurzstrecken doppelt so schnell wie Männer; auf der Marathonstrecke holten sie noch schneller auf. Whipp und Ward errechneten allerdings, dass Frauen schon von 1998 an im Marathon mithalten können müssten; bis 2050 sollten sich ihre Zeiten in allen Disziplinen angeglichen haben.

Aus heutiger Sicht muss man aber sagen: Frauen können offenbar erst dann so schnell laufen wie Männer, wenn sie nicht in weiblichen Körpern starten. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern scheint sich bei zehn Prozent einzupendeln. Das liegt vor allem daran, dass Männer zuverlässig mit einer "Doping-Substanz" versorgt werden, die niemals verboten sein wird: mit körpereigenem Testosteron.

Testosteron macht den Unterschied

Obwohl sich der Hormonspiegel von Mensch zu Mensch stark unterscheidet, haben Männer meist mindestens zehnmal so viel davon wie Frauen. Unter anderem deshalb kann der typische junge Mann bis zu dreieinhalb Liter Sauerstoff pro Minute verbrauchen, die junge Frau hingehen nur zwei Liter, sagt Stephen Seiler, Physiologe vom Agder-College im norwegischen Kristiansand.

Das Hormon regt unter anderem die Bildung roter Blutkörperchen an, dadurch haben Männer rund zehn Prozent mehr Hämoglobin im Blut, das den Sauerstoff zu den Muskeln transportiert. Selbst ohne diesen Vorteil liegt die Kapazität der Männer höher, wie Kirk Cureton von der University of Georgia belegt hat. Er hat Männer zur Ader gelassen, bis ihr Hämoglobinspiegel dem der teilnehmenden Frauen glich.

Auf dem Standfahrrad zeigte sich dann, dass auch andere Faktoren die Sauerstoffkapazität prägen, insbesondere die Muskulatur. Denn Männer haben in Relation zur Körpergröße mehr Muskeln und größere Herzen als Frauen, sagt Dirk Christensen von der Universität Kopenhagen. Das beeinflusst nicht nur die aerobe Kapazität, die für die Ausdauer entscheidend ist. Weil Testosteron auch das Muskelwachstum beschleunigt, steigert es zudem die anaerobe Kapazität des Körpers, also die Fähigkeit, beim Sprint Bewegungsenergie ohne Sauerstoff zu erzeugen.

Diese physiologischen Faktoren spiegeln sich in den neueren Rekorden wider. Nach Berechnungen von Stephen Seiler nimmt der Abstand zwischen Frauen und Männern wieder zu: 1989 habe der durchschnittliche Vorsprung der Männer in sieben Lauf-Disziplinen 10,4 Prozent betragen, zurzeit liege er bei 11,0 Prozent. Für diese Trendumkehr könnte indirekt das Doping verantwortlich sein. Viele Rekorde der 70er- und 80er-Jahre wurden von Sportlerinnen aus Osteuropa aufgestellt - und nie mehr erreicht. 1984 gab es noch 38 Frauen, die 1500 Meter unter 4,05 Minuten liefen, 1991 waren es nur noch neun.

Lediglich beim Marathon holen die Frauen noch auf. Dort ist die Differenz vor allem wegen der Leistung von Paula Radcliffe auf 8,4 Prozent gesunken. Aber auch für die Erfolge der Marathon-Läuferinnen gibt es eine ernüchternde Erklärung: "Frauen haben sich die langen Strecken erst spät erschlossen, darum machen sie jetzt große Fortschritte", sagt Henrik Larsen vom Kopenhagener Muskelforschungszentrum.

Brian Whipp, der die Debatte angestoßen hat, gibt sich nicht geschlagen. Er will seine Analyse auf die Rekorde bis 2003 ausdehnen. Dabei sucht er nach möglichen Leistungsgrenzen. "Es gibt keine Belege dafür, dass der Mensch sein Potenzial ausgeschöpft hat, gleich, ob Mann oder Frau", sagt er. Da ist Seiler anderer Meinung: "Wir nähern uns in vielen Disziplinen dem Leistungslimit", sagt er. "Es werden noch Weltrekorde fallen, aber zu einem hohen Preis."

Zur Frage, ob Frauen Männer einholen können, zitiert Seiler die Norwegerin Grete Waitz, die in den 70er- und 80er-Jahren zahlreiche Rekorde aufstellte: "Solange Frauen Frauen sind, können sie Männer nicht überholen."

© Süddeutsche Zeitung vom 30.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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