Bundesliga-Aufreger:Zorn nach der Zeitlupe

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Zweierlei Meinung: der wütende Bayer-Sportchef Rudi Völler und der vierte Referee Wolfgang Stark. (Foto: action press)

Eine falsche Abseits-Entscheidung von Schiedsrichter Gräfe verhilft Wolfsburg zum 2:1 gegen Leverkusen - und befeuert die Debatte um den Videobeweis neu.

Von Martin Schneider, Wolfsburg

Als wirklich jeder schon etwas zu dieser einen Szene in der 34. Minute gesagt hat, flimmert im Presseraum des Wolfsburger Stadions die Zusammenfassung des 2:1-Sieges gegen Leverkusen über die Bildschirme. Als die Szene läuft, in der das 1:0 durch Nicklas Bendtner fiel, wird die Stimme des Reporters lauter. "Hier scheint es noch, als sei es Abseits", überschlägt er sich fast. "Wir haben aber noch eine zweite Zeitlupe und da sieht man ganz klar, dass der Ball von André Schürrle kommt." Und dass man das in der zweiten Zeitlupe "ganz klar" sah, fasste die Gemengelage des Abends sehr gut zusammen.

Diese Szene in der 34. Minute, sie ging so: Der Wolfsburger Daniel Caligiuri war auf der rechten Seite durch und legte den Ball mit der Hacke zurück auf André Schürrle. Leverkusens Kevin Kampl antizipierte die Situation und ging in den Zweikampf. Zwei linke Beine, ein roter und ein grüner Stutzen, schnellten zeitgleich nach vorne gegen den Ball, der wieder bei Caligiuri landete. Der stand mittlerweile fünf Meter im Abseits, der Assistent hob die Fahne. Aber Schiedsrichter Manuel Gräfe pfiff nicht. Caligiuri spielte in die Mitte, Bendtner traf - und Leverkusens Kyriakos Papadopoulos beruhigte seine Mitspieler und deutete auf die Fahne des Assistenten. War doch abseits, oder?

Auch Nicklas Bendtner schaute irritiert Richtung Linie. "Ich dachte, es ist abseits", sagte er später. "Als junger Spieler habe ich gelernt, so lange zu spielen, bis man die Pfeife hört und so hab ich mir gedacht: Mach ihn erst mal rein und schau, was dann passiert." Abseits ist nach dem uralten Fußballspruch und eben auch per Regelwerk erst dann, wenn der Schiedsrichter pfeift - und nicht, wenn die Fahne oben ist. Manuel Gräfe erzählte die Situation später so: "Ich war mir sicher, dass Kevin Kampl den Ball gespielt hatte. Der Assistent war sich nicht ganz so sicher." Er fragte trotzdem noch einmal bei den beiden beteiligten Spielern nach, bekam aber keine Hilfe. Beide sagten ihm, sie wüssten nicht, wer zuletzt am Ball war. Also blieb Gräfe bei seiner Entscheidung.

Man hätte es dabei belassen können. Enge Situation, Fehlentscheidung, kommt vor, aber auf der Tribüne sah Rudi Völler dann die zweite Zeitlupe und war nach deren Ansicht der Meinung, dass das "ganz klar" eine "riesengroße Ungerechtigkeit" gewesen sei. Der Sportdirektor stürmte an den Spielfeldrand und teilte dem vierten Offiziellen Wolfgang Stark gestenreich seine Erkenntnisse aus der Zeitlupen-Ansicht mit. Noch zur Halbzeit im Kabinengang diskutierte Völler mit Gräfe, der dem immer noch wütenden Sportdirektor beruhigend die Hand auf den Arm legen musste.

Die Leverkusener verlassen sich auf den Linienrichter, Bendtner schießt einfach ins Tor

Es ging in der Diskussion viel unter, was sonst noch so in diesem Spitzenspiel passierte. Zum Beispiel, dass VfL-Trainer Dieter Hecking im Vergleich zum Pokal-Desaster gegen die Bayern gleich fünf Spieler tauschte und man nur einen dieser Wechsel mit einer Verletzung erklären konnte. Oder dass Kevin Kampl auf der Sechserposition eine erstaunliche Leistung lieferte. Oder dass André Schürrle immer noch neben der Spur lief und das Spiel nach dem Ausgleich durch Javier Hernandez (40.) früh entscheiden konnte, aber freistehend das Tor nicht traf ("Im Training mach ich die reihenweise rein."). Oder dass ein Spiel zwischen zwei Champions-League-Teilnehmern so zerfahren laufen kann: Jeder vierte Pass war ein Fehlpass (bei den Bayern ist es jeder zehnte).

Als der eingewechselte Julian Draxler das Spiel in der 77. Minute entschied, nachdem Bernd Leno einen Schuss von Ricardo Rodriguez nur leicht nach vorne abgeklatscht hatte, konnten alle wieder über den Schiedsrichter diskutieren. Der hatte nämlich kurz nach Wiederanpfiff einen Strafstoß für Wolfsburg nicht gepfiffen, als Leno Caligiuri foulte. "Im Spiel dachte ich, die Berührung reicht nicht für einen Strafstoß, zumal der Ball fast im Toraus war", erklärte Gräfe. Nach Ansicht der Zeitlupe "kann man den aber geben".

Natürlich wurde die Frage nach dem Videobeweis nach dem Spiel wieder gestellt. Der Fußball ist ja eine der wenigen Mannschaftssportarten, in der dieses Mittel nicht zugelassen ist. Leverkusens Trainer Roger Schmidt plädierte dafür, Hecking wollte sich nicht zwingend anschließen, aber beide waren sich darin einig, dass der Druck auf die Schiedsrichter immer größer werde. VfL-Manager Klaus Allofs sagte, der Videobeweis würde das Problem nur auf eine andere Ebene verlagern.

Schiedsrichter Manuel Gräfe selbst mochte nichts fordern, sondern sagte sachlich: "In der Abseits-Situation hätte der Videobeweis sicher geholfen." Er zuckte mit den Schultern. "Letztendlich ist es mein Fehler. Die Leverkusener können zu Recht unzufrieden mit der Schiedsrichterleistung sein. Es tut mir leid. Aber ich habe mein Bestes gegeben."

© SZ vom 02.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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