Briten und Iren:Wie die Panzerknacker vor dem Geldspeicher

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Von wegen Brexit: England, Wales und Nordirland sowie das Nachbarland Irland rücken geschlossen ins Achtelfinale der EM vor - und treten dort mit recht unterschiedlichen Gemütslagen an.

Von Johannes Knuth, München

Roy Hodgson weilte am vorigen Mittwoch in Paris, er hatte mit seinem Assistenten Ray Lewington den Zug genommen vom Teamquartier in Chantilly zum Gare du Nord. "Sightseeing", teilte Englands Verband mit. Dass zeitgleich Island und Österreich im Stade de France aufeinanderprallten, interessierte den englischen Nationaltrainer weniger. Was sollte schon passieren? Island gewinnt? Hahaha.

Zu Hodgsons Ehrenrettung: Fast jeder hatte wohl geglaubt, dass Portugal im Parallelspiel der Gruppe F gewinnen und am kommenden Montag auf England treffen würde. Dann erzielte der Isländer Arnor Traustason in der 94. Minute das 2:1. Island fiel ins Delirium, drängelte sich an die Tabellenspitze und ist nun am Montag in Nizza mit Hodgsons Engländern verabredet. Der Trainer muss jetzt halt TV-Bilder studieren, um seine Mannschaft auf einen Gegner vorzubereiten, der unbesiegt durch die Vorrunde wanderte und so viele Einwohner hat wie ein Londoner Vorort.

Hodgsons Freizeitgestaltung war eines der wenigen Themen, die die Stimmung auf den Britischen Inseln zuletzt dimmten. Seit Mittwoch ist ja amtlich, dass ihre vier Bewerber - wenn man neben England, Wales und Nordirland aus geografischen Gründen auch Irland dazuzählen mag, was die Iren selbst aus politischen Erwägungen freilich gar nicht mögen - geschlossen ins Achtelfinale rücken, nachdem bei der EM 2008 noch alle gefehlt hatten. Großbritanniens Premier David Cameron gab das die Möglichkeit, sich eine Pause in der politischen Arena zu gönnen und, zur Halbzeit des EM-Turniers, ein paar Grußworte nach Frankreich zu schicken: "Fantastisch, dass drei Home Nations weiter dabei sind." Die vierte "Home Nation" ist Schottland, das nur nebenbei. Am Abend stieß dann auch Nachbar Irland dazu, nach dem 1:0 über Italien. Der EM bleiben damit auch die lautesten Sänger erhalten. Und ein wenig kurios ist es ja schon: Dass die britischen Fußballer ihre Teilnahme am europäischen Turnier verlängert haben, während sich Brexit-Anhänger bis zuletzt aus dem politischen Europa lösen wollten.

Bei Beobachtern und Anhängern der englischen Auswahl hält sich die Freude freilich in Grenzen. Was nicht nur der Tatsache geschuldet ist, dass die Engländer in der schweren Hälfte des Turnierbaums gelandet sind (die Nachbarn tummeln sich geschlossen in der anderen Hälfte). Nein, den Engländern ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie erneut einen Gegner bearbeiten müssen, der ihnen Ball und Spielkontrolle überlassen wird - ehe sie sich in der Defensive verhaken und empfänglich sind für Gegenstöße. Wie sehr die Engländer dieser Spielverlauf plagt, konnte man im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei besichtigen (0:0), sie traktierten die Defensive wie Diebe einen Tresor, mit Hämmern und Dynamit - und scheiterten stets so kläglich wie die Panzerknacker an Dagobert Ducks Geldspeicher. Immerhin: Die Frage, ob die traditionell schlechten Elfmeterschützen schon Elfmeter geübt hätten, parierte Hodgson lässig: "Elfmeter im Training und Elfmeter vor vielen Leuten sind verschiedene Dinge, das wissen wir."

Die restlichen Achtelfinal-Vertreter von den Atlantik-Inseln baden unterdessen in ihren Gefühlen, zwischen Angriffslust und Überschwang. Die Iren haben sich ihr Rendezvous im Achtelfinale dank des 1:0 gegen Italiens B-Elf verdient, sie traten auf wie ein etwas ungelenker, unterschätzter Boxer, der kurz vor dem Schlussgong einen unerwartet Hieb landete. Diese Schlüsselqualifikation wollen sie nun gegen Gastgeber Frankreich einbringen. Jenes Frankreich übrigens, das ihnen die WM-Teilnahme 2010 stahl, dank Thierry Henrys berüchtigtem Handtor. "Frankreich? Leicht", sagte Irlands Trainer Martin O'Neill nur.

Auch Nordirland und Wales genießen den unerwarteten Erfolg, der ihnen gerade zufliegt. "Unsere Fortschritte in den vergangenen zweieinhalb Jahren war unglaublich", sagt Nordirlands Gareth McAuley. Wales' Spieler wiederum wussten gar nicht so recht, wie ihnen geschah, als sie sich nach dem 3:0 gegen Russland Platz eins in der Gruppe B gesichert hatten, vor England (!). Und das bei ihrem ersten wichtigen Turnier seit der WM 1958. Mittelfeldspieler Joe Ledley, der einen beeindruckenden Bart mit sich führt, für den ihn die Isländer glatt einbürgern würden, feierte im Stadion mit ein paar Tanzschritten, später gab es einen Grillabend. Überhaupt haben sie in ihrem Quartier einen starken Mannschaftsgeist geschaffen, mit täglichen Quiz-Abenden zum Beispiel, der Verlierer muss irgendetwas aufführen. "Wales gewinnt die psychologische Schlacht", schrieb der Guardian zuletzt. Das muss kein Nachteil sein, wenn sie am Samstag, im zweiten Achtelfinale der EM, auf Nordirland treffen.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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