Biathlon-WM in Östersund:Nuschelndes Gegenmodell

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Mit zwei Siegen war sie die dominierende Akteurin beim Auftakt der Biathlon-WM: Doch Doppelweltmeisterin Andrea Henkel will in erster Linie Sportlerin sein, die Rolle als Medienstar liegt ihr nicht

Volker Kreisl

Ein Graphologe wäre vielleicht die Rettung. Er könnte aus der Unterschrift an der Tafel sicher einiges herauslesen. Etwas über die Gefühlsverfassung, die charakterliche Disposition, über die Stärken, die diese wortkarge Athletin zurück nach oben gebracht haben. Die Tafel steht auf dem Podium des Pressesaals, und nach der Pressekonferenz hinterlassen alle Sieger der Biathlon-WM darauf ihr Autogramm, eine Art Wall of Fame soll es werden, und je nach Typ fällt der Schriftabdruck anders aus. Halvard Hanevold, zum Beispiel, 38, stets bescheiden und diesmal Sprint-Zweiter, hängte seinem Namen ein "NOR" an, als wüsste man nicht, dass der Älteste unter den Besten aus Norwegen kommt. Sprint-Sieger Maxim Tschudow aus Russland dagegen setzte ein derart breites Autogramm in die Mitte, als wäre er nicht Maxim Tschudow, sondern Wladimir Putin.

Andrea Henkel gewann zum Auftakt der Biathlon-WM zwei Goldmedaillen. (Foto: Foto: getty)

Vorher aber war schon die Frauen-Sprintsiegerin dran. Sie war hier die erste Goldmedaillengewinnerin, die Tafel war noch frei, und sie nahm den Filzer und schrieb rechts oben ihren Namen hin. Von weitem kaum zu erkennen steht da jetzt ganz klein, mit leicht zackigen Initialen und säuberlich ausgeschriebenen Restbuchstaben, so gerade ausgeführt, als hätte sie ein Lineal zu Hilfe genommen: Andrea Henkel.

Sie hat am Sonntag noch eins draufgesetzt und auch den Titel in der Verfolgung gewonnen. Henkel, 30, ist seit neun Jahren dabei, Höhen und Tiefen gab es in ihrer Karriere, die schon jetzt zu den herausragenden des Biathlons gehört. Und doch bleibt es bis heute eine der größten Herausforderungen, Andrea Henkel aus Großbreitenbach/Thüringen zu ergründen. Auch im Moment das Triumphs entweicht ihr kein Jauchzer, sie bleibt schmallippig; wenn sie lacht, dann scheu, was sie wirklich fühlt und denkt, sagt sie nicht.

Vor allem die Reporter aus Thüringen schwanken bei Rennen wie an diesem Wochenende zwischen zwei Gefühlen. Da ist ein einerseits das patriotische Frohlocken, wenn Henkel fehlerfrei vom letzten Schießen zum Sieg aufbricht, und da ist die Ernüchterung über den Arbeitsanfall: Was sollen sie bloß wieder schreiben? Darüber, dass dies ein neuer Höhepunkt in Andrea Henkels Karriere ist, mit dem sie ganze Erwartungslast von einem Team nimmt, das immer eine Medaille holen muss? Oder darüber, wie sie den Morgen verbracht hatte, was dieses beispiellose Wochenende mit 30 Treffern bei 30 Schuss in ihrem Leben bedeutet? Aber Henkel nuschelt ja ohnehin nur wieder das immergleiche. Nach dem Sprint nuschelte sie: "Als ich gesehen hab', dass die letzte Russin daneben schoss, da war mir der Sieg klar, das war'n gutes Gefühl."

Andererseits klingt das nur wie Nuscheln, in Wahrheit ist es dieser Thüringer Dialekt, ein leichter Singsang, und je mehr man von Henkels Antworten hört, desto klarer wird, dass hinter dem Singsang weit mehr Selbstbewusstsein steckt, als man glaubt. Denn Athleten reifen parallel zu ihrer sportlichen Entwicklung.

Henkel war als Unbekannte bei Olympia 2002 mit zwei Goldmedaillen über Nacht berühmt geworden; in den Jahren darauf, als ihr nichts mehr gelingen wollte, dachte sie sogar ans Aufhören, brachte sich aber selber wieder in die Spur. Henkel besorgte sich ein neues Gewehrsystem, sie ließ sich die Mandeln herausnehmen, und sie lernte, gewissenhaft im Kraftraum zu arbeiten. Sie kam zurück, wurde nun zum dritten Mal hintereinander Weltmeisterin. Und so wie ihren Wettkampfstil entwickelte sie ihren Auftritt danach. Henkels Nichtssagen hat sich verfeinert, nahezu perfektioniert, es ist schon fast Unterhaltung.

Beim WM-Titel 2005 saß sie noch verschüchtert in der Ecke, mittlerweile steht sie oben auf der Bühne und pariert die Fragen rasant und mit verschiedenen Techniken. Auf die lockernde Frage, wie sie sich morgens gefühlt habe, Sieger haben ja manchmal so einen Instinkt, klassisch banal: "Ich hab nix gefühlt, was ich nicht sonst auch fühl." Auf die lauernde Frage, ob heute, da all die jungen Biathletinnen fernab landeten, der Tag der Älteren war, philosophisch-beliebig: "Es ist doch wurscht, wie alt wir sind." Und auf die stichelnde Frage, ob es nicht frustrierend sei, wenn sich vor der WM deutsche Sponsoren, Medien und Preisverleiher nur auf Kati Wilhelm und Magdalena Neuner stürzten, naiv-ablenkend: "Ich war ja schon in Schweden, da hab ich nix von mitgekriegt."

Besser als Henkel in der Verfolgung könne es eine Biathletin nicht machen, sagte Bundestrainer Uwe Müssiggang. Henkel hielt immer ihren Abstand auf die Russinnen Achatowa und Juriewa, stets ihre Reserven kontrollierend. Sie ist derzeit die verlässlichste Biathletin, also könnte sie der Star dieser WM werden, wenn das Wort Star nicht zu groß für sie wäre. Stars sind andere, Wilhelm oder Neuner, sie lächeln charismatisch und können mit Kameras flirten.

Henkel stellt ein Gegenmodell dar im immer lauter werdenden Wintersport. Sie ist dabei nicht intellektuell oder moralisch, sie tritt auch nicht als Vorbild auf, sie erlaubt es sich nur, in einer immer kommunikativeren Welt keine Kommunikatorin zu sein. Betreibt nur ihren Sport und macht klar, dass sie jenseits einer bestimmten Grenze in Ruhe gelassen werden will. Also, Andrea Henkel, was kommt noch bei der Weltmeisterschaft? - "Darüber hab ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, wenn noch was kommt, dann kommt noch was, wenn nix kommt, dann kommt nix."

Wer weiß, vielleicht würde ein Graphologe zu demselben Schluss kommen: dass da jemand zielstrebig zu Werke geht, dem es aber reichlich unangenehm ist, im Mittelpunkt zu stehen, der immer wieder mit feiner Akribie zum Erfolg findet und doch am Ende stets verkannt bleibt.

© SZ vom 11.2.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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