Belgiens Viertelfinal-Niederlage:Donner in der Kabine

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Nach dem Aus gegen Wales vertiefen sich die Risse und Debatten in Belgiens "Goldener Generation". Die Spieler werfen Trainer Marc Wilmots fehlenden taktischen Sachverstand vor.

Von Claudio Catuogno, Lille

Es gab so viele Fragen. Aber Thomas Vermaelen hat irgendwann nicht mehr eingesehen, dass ausgerechnet er die alle beantworten soll. Wie kann es sein, dass Belgien 1:3 gegen Wales verliert? Ist die vermeintlich "Goldene Generation" doch nicht so golden? War die Taktik falsch? Ist der Trainer noch der Richtige?

Der Verteidiger Thomas Vermaelen, 30, war als Erster aus der Kabine gekommen, er war gelbgesperrt gewesen im Viertelfinale gegen Wales in Lille, er hat nicht duschen und sich danach die Frisur richten müssen, deshalb bildete sich die erste Reportertraube um ihn. Und während Vermaelen nach Worten rang, schlurfte hinter ihm demonstrativ wortlos eine Gestalt vorbei, kaum zu erkennen, das Handy am Ohr, das Gesicht versteckt hinter der Kapuze seines grauen Pullovers. Es war der Stürmer Romelu Lukaku, 23, vom FC Everton.

Wenn man den einschlägigen Portalen glaubt, beträgt Lukakus sogenannter Marktwert 40 Millionen Euro, der von Vermaelen, der beim FC Barcelona meist nur auf der Bank sitzt, liegt bei drei Millionen. Irgendwie, fand Vermaelen, sollte hier gerade der Falsche der Kronzeuge sein zum Thema Goldene Generation. "Fragt doch diejenigen, die mitgespielt haben", sagte er also zu den Journalisten; er wirkte, als sei ihm der Kollege im Kapuzenpulli selbst ein bisschen peinlich. Dann ging auch er, höflich um Verständnis bittend, zum Bus.

Für die aktuellen Profis ist Wilmots nur ein ehemaliger Kapitän, der jetzt das Sagen hat

Es war nur eine kleine Szene am Freitagabend im Stade Pierre Mauroy. Aber sie stand stellvertretend für das große Ganze - für Belgiens erneutes Scheitern bei einem großen Turnier, nach dem Aus gegen Argentinien im Viertelfinale der WM 2014 in Brasilien. Da Vermaelen, dort Lukaku, und der eine verweist auf den anderen.

Auf den Tribünen sangen derweil die walisischen Fans immer noch ihr lustiges Lied: "Don't take me home, please don't take me home. I just don't wanna go to work."

"Taktisch war das völlig falsch, wir sind in die gleiche Falle gelaufen wie gegen Italien", lautet die Kritik von Coutrois an Wilmots (l., mit Hazard). (Foto: imago)

Dass die einen nach Hause fahren und die anderen dableiben, das gehört zum Wesen eines Ausscheidungsspiels dazu. Wen es warum trifft - das ist die Frage, die sich danach alle stellen. Im Fall dieses Viertelfinales von Lille ist die Antwort relativ einfach: "Belgien hat Talent, Wales hat eine Mannschaft." So hat es die Tageszeitung Le Soir am Tag danach in ihrem EM-Kommentar geschrieben.

Die Frage, wessen Aufgabe es gewesen wäre, aus Ausnahmespielern wie Eden Hazard (FC Chelsea, Marktwert 65 Millionen), Kevin De Bruyne (Manchester City, 60 Millionen), Radja Nainggolan (AS Rom, 30 Millionen) oder Yannick Carrasco (Atlético Madrid, 25 Millionen) auch auf dem Rasen jenen Titelkandidaten zu formen, der Belgien nominell sein müsste - diese Frage führt direkt zum Trainer Marc Wilmots. Der 47-Jährige wurde in seinem früheren Leben als Spieler beim FC Schalke 04 "Kampfschwein" genannt und war immer mehr ein Wühler als ein Stratege. Das erklärt schon relativ viel.

Wilmots wird noch ein paar Tage oder Wochen Trainer bleiben beim Koninklijke Belgische Voetbalbond. "Die Niederlage hat auch den Verband hart getroffen", teilte der KBVB am Samstag mit, aber "es wurde beschlossen, keine überhasteten Schlüsse zu ziehen". Stattdessen werde nun "gründlich die sportliche und organisatorische Funktionsfähigkeit der Nationalmannschaft bilanziert". Wilmots' Vertrag läuft noch bis zur WM 2018. Und er hat durchaus Fürsprecher: Robert Waseige, der das Amt von 1999 bis 2002 ausfüllte, sagte Le Soir: "Man muss in jedem Fall mit ihm weitermachen. Es gibt keinen Grund, ihn jetzt abzuschalten." Allerdings ist auch Waseiges Urteil noch davon geprägt, dass er Wilmots als Spieler schätzte - der Schalker war damals sein Kapitän.

Für die aktuellen Profis, die es aus ihren Klubs gewohnt sind, von Figuren wie José Mourinho oder Diego Simeone taktisch angeleitet zu werden, ist Marc Wilmots offenbar vor allem ein ehemaliger Kapitän, der jetzt das Sagen hat.

Keiner hat das in Lille so klar angedeutet wie der Torwart Thibaut Courtois, 24, vom FC Chelsea. "Wir haben ein Problem mit der Taktik, schon seit längerer Zeit", sagte er, "ich muss meine Worte vorsichtig wählen, denn ich will nicht alles zerstören. Aber was ich zu sagen hatte, habe ich in der Kabine gesagt." Was Courtois in der Kabine zu sagen hatte, das protokolliert die Zeitung Het Laatste Nieuws mit Verweis auf mehrere Zeugen. "Taktisch war das völlig falsch, wir sind in die gleiche Falle gelaufen wie gegen Italien", soll er nach dem Spiel seinem Trainer an den Kopf geworfen haben; die Teamkollegen seien dagestanden wie vom Donner gerührt. Darauf Wilmots: "So redest du nicht mit mir" - dann sei die Auseinandersetzung in einem Nebenraum weitergegangen.

Der belgische Torwart Thibaut Courtois attackiert nicht nur den Pfosten, sondern auch Trainer Marc Wilmots. (Foto: imago)

Wenn Spieler um taktische Anleitungen geradezu flehen müssen, ist das eher keine Arbeitsgrundlage. Also, wie geht es jetzt weiter mit der Goldenen Generation? "Ich werde meine Entscheidung nicht sofort treffen", hatte Wilmots nach dem Spiel auf der Pressekonferenz gesagt, "ich habe noch zu viel Adrenalin im Körper." Er verwies - völlig zu Recht - darauf, dass er gegen Wales fast die gesamte Abwehrreihe habe ersetzen müssen, das bringe jede Elf mit jedem Coach an ihre Grenzen, "ich bin kein Zauberer". Und er nahm für sich in Anspruch, er habe doch ab der 25. Minute, als sich die Belgier trotz 1:0-Führung plötzlich unerklärlich weit zurückfallen ließen, "nicht aufgehört zu gestikulieren und ,Geht nach vorne! Geht nach vorne!'" zu rufen. Er wisse auch nicht, warum das niemand befolgt habe.

Fragt doch die, die gespielt haben. Belgien wirkte in Lille in vielerlei Hinsicht wie eine Elf ohne Trainer.

© SZ vom 04.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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