Außenseiter-Triumph:Island brodelt

Lesezeit: 4 min

Schnell hakt die kleinste Nation, die je an einer Europameisterschaft teilnahm, ihren Achtelfinal-Coup ab und schaut nach vorne auf den Viertelfinal-Sonntag, wenn es gegen Frankreich geht.

Von Ulrich Hartmann, Nizza

Es geht bei dieser Geschichte nicht nur um Fußball. Es geht um viel mehr. "Das Leben unserer Spieler verändert sich gerade", sagt Lars Lagerbäck, ein Schwede, der die isländische Nationalmannschaft trainiert. Einschneidende Ereignisse im Leben sind das Erwachsenwerden, die Geburt der Kinder, ein Schicksalsschlag, die Liebe oder die Erleuchtung. Ein Fußballspiel gehört normalerweise nicht dazu. Aber der Fußball und seine Konnotationen sind auch nur selten so emotional und vielschichtig wie am Montagabend im "Stade de Nice" an der Côte d'Azur. Und es war nicht mal das Endspiel der Europameisterschaft, es war nur ein Achtelfinale.

Die Isländer haben England mit 2:1 besiegt. Sie haben hinterher gebrüllt, als wären sie Europameister geworden. Sie haben mit ihren 10 000 Fans das isländische Jubelritual zelebriert, ein rhythmisches und präzise beklatschtes, erst langsam und dann immer schneller folgendes dröhnendes "Hu!", das in jede Ritze des Stadions drang. Eine schaurige Geister-Beschwörung. Island gelang das Spiel des Lebens. Für die Engländer war es nur Fußball. Deshalb konnte ein kleines Land wie Island ein großes wie England besiegen.

1 / 14
(Foto: Bertrand Langlois/AFP)

"Hu! Hu! Hu!" Nicht nur mit ihrem Fußball auf dem EM-Rasen begeistert Islands Nationalmannschaft gerade ganz Europa. Sondern auch mit ihrem Jubelritual.

2 / 14
(Foto: imago)

Sigthorssons Siegtor: Islands Stürmer (blaues Trikot) schießt den Außenseiter gegen England ins Viertelfinale.

3 / 14
(Foto: Lars Baron/Getty Images)

Zu Beginn der Partie auf der Bank: Jack Wilshere (2.v.l.) und Jamie Vardy (2.v.r.).

4 / 14
(Foto: Alex Livesey/Getty Images)

Doch für England läuft es erstmal trotzdem rund: Raheem Sterling (Nr. 7) wird von Islands Torhüter Hannes Halldorsson zu Fall gebracht - Strafstoß.

5 / 14
(Foto: Laurence Griffiths/Getty Images)

Den zimmert Wayne Rooney unhaltbar ins linke untere Eck - von wegen Engländer können keine Elfmeter schießen.

6 / 14
(Foto: Claude Paris/AP)

Doch rund 80 Sekunden später ist das Spiel schon wieder ausgeglichen: Nach einem per Kopf verlängerten Einwurf schiebt Ragnar Sigurdsson (Nr. 6) zum 1:1 ein.

7 / 14
(Foto: Alex Livesey/Getty Images)

Der isländische Unglücksrabe Halldorsson freut sich am meisten: Island schnuppert wieder einmal an einer Sensation bei dieser EM.

8 / 14
(Foto: Bertrand Langlois/AFP)

Wie groß diese Sensation wäre, sieht man bei einem Blick in den ekstatischen isländischen Fanblock.

9 / 14
(Foto: AFP)

Und die Ekstase nimmt weiter zu: Kolbeinn Sigthorsson (l.) kommt zum Schuss, Englands Schlussmann Hart kommt nicht schnell genug runter - das 2:1.

10 / 14
(Foto: Thanassis Stavrakis/AP)

Zur Halbzeit geben das Ergebnis und die Spielweise der Isländer dem britischen Trainer Roy Hodgson Rätsel auf.

11 / 14
(Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

In der zweiten Hälfte bringt Hodgson Vardy (Bild, rechts), Wilshere und Rashford - die besseren Chancen hat trotzdem Island.

12 / 14
(Foto: Tibor Illyes/dpa)

Und so schafft der Außenseiter die größte Sensation des Turniers: Den Einzug ins Viertelfinale gegen Gastgeber Frankreich.

13 / 14
(Foto: Peter Powell/dpa)

Wobei daran an diesem Abend zunächst niemand denkt - Island hat einen neuen Feiertag. Es wird sich zeigen, ob weitere folgen.

14 / 14
(Foto: Yves Herman/Reuters)

England scheidet dagegen - mit großen Erwartungen gestartet - im Achtelfinale aus: Trainer Hodgson stellt sein Amt zur Verfügung.

Es geht immer wieder um Größe in dieser Geschichte über Islands Fußball. Ständig erinnert jemand an die nur 330 000 Einwohner. Island ist die kleinste Nation, die je an einer Europameisterschaft teilgenommen hat. In Island wohnen genauso viele Menschen wie in der englischen Stadt Leicester, deren Club "City" dieses Jahr Meister geworden ist. In Island spielen höchstens 20 000 Menschen Fußball, und jetzt fragt sich die Welt, wie die Auswahl dieses in Europa am dünnsten besiedelten Landes gegen die Auswahl Englands gewinnen konnte. England gilt als Heimat des Fußballs, Engländer gelten vielen Isländern als Verkörperung dieses Sports. "In Island schauen wir englischen Fußball, seit wir geboren wurden", sagte der mit Lagerbäck ein Trainerduo bildende Isländer Heimir Hallgrimsson. "Früher waren wir alle immer für England", berichtete der Spieler Arnor Traustason. "Der englische Fußball ist so groß", sagte Montagnacht Hallgrimsson mit zwei langgezogenen Os und Rührung in der Stimme.

Es brauchte solche Sätze und die Erinnerung an Englands fußballerische Verdienste, um sich die Dimensionen des isländischen Triumphs bewusst zu machen. Alle anderen Festellungen ("Ein großes Spiel, ein großer Abend, das ist groß für Island") nutzten sich ab.

Der englische Fußballer Wayne Rooney verdient bei Manchester United sicher mehr Geld als die elf isländischen Startspieler vom Montag in ihren Klubs zusammen. Torwart Hannes Halldorsson spielt bei FK Bodö/Glimt in Norwegen, Birkir Sævarsson bei Hammarby in Schweden, Ragnar Sigurdsson bei Krasnodar in Russland, Kari Arnason in Malmö, Ari Skulason in Odense, Dänemark. Diese Fußballer spielen das ganze Jahr im Schatten einer strahlenden Branche, und als sie am Montagabend aus der Kabine traten, da wollten sie es der Welt zeigen. Mit Wille allein ist das aber nicht zu schaffen. Island spielte sehr konzentriert ein klassisches 4-4-2-Spielsystem mit verengten Räumen und Fußballern, die bei gegnerischem Ballbesitz binnen Sekunden attackieren. Wer zu solchem Aufwand nicht bereit oder in der Lage ist, hat es schwer gegen sie. Am kommenden Sonntag wollen die Helden von der Vulkaninsel auf diese Art auch den EM-Gastgeber Frankreich in Saint-Denis in Schwierigkeiten bringen. "Wer England besiegt, kann auch Frankreich besiegen", sagt Ragnar Sigurdsson, der das Tor zum 1:1-Ausgleich erzielt hat. "Wir haben vor niemandem Angst."

Spiele gegen diese Isländer sind wahrlich ein Tanz auf dem Vulkan. Sie brillieren nicht technisch und suchen nicht ständig den Weg vor das gegnerische Tor, aber sie arbeiten hart und geduldig und haben durch ihre 1:1-Unentschieden gegen Portugal und Ungarn sowie die 2:1-Siege gegen Österreich und England schon viel Selbstvertrauen gewonnen. In der Qualifikation zur EM haben sie die Niederlande eliminiert, in der EM-Vorrunde Österreich, nun England. Dieser Vulkan brodelt und kann jederzeit etwas unter sich begraben.

"Wir werden immer besser, das Spiel gegen England war unser bestes bisher", sagte Hallgrimsson, "mit dieser Einstellung können wir jeden Gegner schlagen." Vor vier Jahren war Island in der Weltrangliste noch 133. hinter Burundi. Jetzt sind sie 34. - und bei der EM stehen sie sogar unter den besten Acht.

Lars Lagerbäck ist im Trainerteam für Training und Taktik zuständig, er hat viele Innovationen aus seiner Zeit als schwedischer Nationaltrainer mit nach Island gebracht. Er versucht, bevor er nach der EM aufhört und Hallgrimsson das Feld überlässt, den isländischen Spielern noch mehr Dominanz und Spielgestaltung beizubringen, mehr offensive Aktion - nicht nur defensive Reaktion. "Wir verbessern das langsam", sagt er, "aber wir wollen noch cooler sein, wenn wir den Ball haben." Als Lagerbäck am Montagabend sagte, das Leben seiner Spieler werde sich verändern, meinte er damit, ihnen stünden nach dieser EM hoffentlich bessere Verträge bei größeren Vereinen in Aussicht. Der 67-Jährige denkt in Fußballtermini, es ist seine vierte EM als Trainer. "Ob sie sich auch privat verändern, kann ich nicht beurteilen", sagte er.

Hallgrimsson, 49, verkörpert selbst die isländische Mentalität. Die beiden sind als Trainerduo ein bisschen wie 2006 der Taktiker Joachim Löw und der Motivator Jürgen Klinsmann als Trainerteam bei der deutschen Mannschaft. "Island hat sehr, sehr gut gespielt", lobte Löw am Dienstag im Quartier der deutschen Mannschaft, "es war klasse, wie sie mutig und selbstbewusst nach vorne gespielt haben."

Anders als Lagerbäck hebt Hallgrimsson den Fußball auch gern auf eine psychologische oder gesellschaftliche Ebene. Wie sehr der Glaube an sich selbst dieser Auswahl beim Sieg über England geholfen habe, ist er gefragt worden. "Wenn du das Beste aus deinem Leben herausholen willst", hat er geantwortet, "musst du bereit sein, wenn sich dir die ganz großen Gelegenheiten bieten." Am Montag war solch eine Gelegenheit im Leben der isländischen Nationalspieler - und sie waren bereit.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: