Athen 2004:Herrin der Wahrheit, Hort der Kyniker

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Von subversiven Pferden, verbotenen Substanzen und Philosophen ersten Ranges: ein Olympia-Rückblick, mit Hilfe einiger alter Griechen.

Von Christian Zaschke

Die Spiele streben dem Ende entgegen, Zeit, einmal zu überlegen, was hier eigentlich alles passiert ist. Bei diesen Überlegungen können einige antike griechische Philosophen und ein nicht ganz so antiker und nicht ganz so griechischer Philosoph sicherlich nicht schaden.

"Wenn die Pferde Götter hätten, sähen sie wie Pferde aus." (Xenophanes, etwa 570 - 470 v.Chr.)

Es ist natürlich nicht davon auszugehen, dass die Pferde Götter haben, obwohl sie bekanntlich sehr große Köpfe haben, in denen genug Platz wäre, sich einige feine Götter auszudenken. Ursprünglich hatte Xenophanes, dieser Sturmvogel der griechischen Aufklärung, dieses notiert: Wenn die Pferde Götter hätten, dann beschwerten sie sich bei diesen den ganzen Tag darüber, dass sie bei Olympischen Spielen stets die Goldbilanzen der Deutschen polieren müssen. Sie würden, so die Beschwerde, ganz gern mal einen Springparcours komplett abräumen und anschließend beim Bad im Wassergraben ihren Gott einen guten Mann sein lassen. Aber sie haben ja keinen, so gibt es keine Beschwerde und immer Gold für Deutschland, außer, das Pferd ist ein kleines bisschen subversiv und holt bloß Silber.

Xenophanes hat seinen Satz also umgeschrieben, weil er keinen Ärger mit den Deutschen haben wollte. In ersten Entwürfen findet sich auch der Satz: Wenn die Doper Götter hätten, wie sähen die aus? Daneben hat er einige Zeichnungen gemacht von Menschen mit sehr viel Behaarung, spitz geformten Kinnpartien, und da und dort hat er mit feiner Feder einen Pickel eingezeichnet. War früh dran, Xenophanes.

"Nicht Leibeskraft oder Geld macht den Menschen glücklich, sondern Geradsinnigkeit und Vielseitigkeit." (Demokrit, 460 - 371 v.Chr.)

Man sieht, das Thema Pferde hatte einige Bedeutung in der Antike, hier hält Demokrit ein verstecktes Loblied auf die Vielseitigkeitsreiterei. Es war eine subtile Antwort auf Xenophanes, dessen respektloses Schreiben über Pferde dem Demokrit ein Dorn im Auge war. Auch zeugt diese früh ausgeprägte Liebe zur Vielseitigkeitsreiterei von einiger Weitsicht, denn wer hätte geahnt, dass diese bei den Spielen 2004 ein derart großes Thema sein würde.

So groß, dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeschaltet hat und, grob zusammengefasst, gesagt hat, man müsse auch an die Fairness denken. Dabei muss man sich um die Vielseitigkeitsreiter nun wirklich keine Sorgen machen, denn sie sind nach Demokrit bereits glücklich, a) durch ihre immense Vielseitigkeit, und b) durch ihre erfrischende Geradsinnigkeit. Der deutsche Reiter Hinrich Romeike, der seine Goldmedaille nach dem Protest von Briten und Franzosen wieder abgeben soll, teilte geradsinnig mit, er rücke die Plakette nicht mehr raus. Weniger bekannt ist übrigens Demokrits älterer Bruder Hämatokrit, der ein interessantes Epos über Sauerstoff im Blut verfasste.

"Geh' mir aus der Sonne!" (Diogenes, ca. 412 - 320 v.Chr.)

Diogenes ist nun wirklich einer der größten Kenner des Menschen. Er tat immer so, als würde er sich für nichts interessieren (obwohl er heimlich eine Vorliebe für die italienische Frauen-Volleyballmannschaft hegte, was man damals nun wirklich nicht laut sagen durfte). Er war immer für eine kleine Aktion gut, zum Beispiel lief er tagsüber mit einer Laterne durch Athen und rief: "Ich suche Menschen." Etwa 2350 Jahre bevor der Smog die Stadt wirklich einnebelte, das muss man sich mal vorstellen. Hier bei den Spielen ist von Smog nichts zu sehen, weil die Athener im August die Stadt verlassen, was bisweilen zu einem angenehmen Gefühl der Leere und Weite führt.

Auch Diogenes schätzte dieses Gefühl; als ihn der Feldherr Alexander nach seinem größten Wunsch fragte, sagte Diogenes: "Geh' mir aus der Sonne!" Die Geschichte ist so gut, dass sie wahrscheinlich nicht stimmt. Diogenes bekam wegen seines Bettlerlebens den Beinamen "kyon" (Hund). Davon leitet sich die Philosophenschule der Kyniker ab, von denen sich die heute so beliebten Zyniker ableiten. Letztere, wenn es sich um Journalisten handelt, nennt Franz Beckenbauer gern Zynistiker, und ist es nicht eine herrliche Welt, in der sich derart mühelos der Bogen von Diogenes zu Beckenbauer schlagen lässt?

"Mutter der goldene Kränze stiftenden Kampfspiele, Olympia, Herrin der Wahrheit." (Pindar, 522/18 - 438/32 v.Chr.)

Pindar war ein Pfundskerl, wenn man jemanden suchte, mit dem man einige Flaschen Ouzo durchbringen wollte. Er war zudem ein begnadeter Schreiber, kaum auszuhalten, wie Pindar schreiben konnte, aber er brauchte stets Geld, der Mensch lebt ja nicht vom Ouzo allein. Es empfiehlt sich, zum Ouzo stets ein paar Nüsschen zu nehmen, und hier ist zu bedenken, dass noch heute bei den Olympischen Spielen ein Tütchen, das eine Hand voll Erdnüsse enthält, drei Euro kostet. Pindar verkaufte also sein Talent und besang die Olympiasieger, er schrieb herrliche Oden, auch wenn er wusste, dass damals schon etliche Sieger allerlei Dinge gegessen hatten, die nicht auf jedem Speiseplan standen. Wenn Pindar die Spiele die "Herrin der Wahrheit" nannte, so zeigt das, dass es schon vor Diogenes Kyniker gab, beziehungsweise schon vor Beckenbauer Zynistiker.

"Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke?' - ,Ganz unmöglich.'" (Platon, 427 - 347 v.Chr.)

Platon hat die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Sportfernsehens vorhergesehen. Er hat dazu das Höhlengleichnis geschrieben. Darin sitzen die Menschen festgebunden in einer Höhle, sie können ihren Kopf nicht bewegen, und vor ihnen ziehen auf einer Wand die Schatten der Dinge vorbei. Die Dinge selbst liegen hinter dem Menschen, er kann sie nicht sehen. Kann man Fernsehgucken genauer beschreiben? So kann man zum Beispiel aus zwanzig, dreißig Zuschauern ein schönes Bild machen, man lässt sie ein wenig jubeln, und schon sieht man auf der Wand, die das Fernsehen ist, eine herrliche Stimmung und hält sie für das Wahre.

Unsichtbar die Wettkämpfe, bei denen sich 50 Zuschauer in weiten Hallen verloren, unsichtbar auch, dass bei einem vermeintlichen Höhepunkt, dem 200-Meter-Freistil-Rennen der Frauen mit Franziska van Almsick, im Schwimmstadion so viele Plätze gar nicht besetzt waren. In Platons Gleichnis bedarf es einer gewaltigen Anstrengung, das wahre Bild zu sehen. Erst müssen die Fesseln gelöst werden, dann gilt es, sich umzudrehen, und natürlich blendet das ganze Licht erst einmal.

Damit wollte Platon andeuten, dass das Dach auf dem Schwimmstadion nicht fertig werden würde, und dass man tatsächlich ganz schön in die Sonne blinzeln musste, um die leeren Plätze zu sehen. Im heutigen Leben ist der Weg für den Menschen zum Wahren nicht ganz so weit. Er kann den Fernseher abschalten, damit sind zumindest schon einmal die falschen Bilder weg. Der Rest ist reisen.

"Denn wir sind dadurch, dass wir die Medizin und die Gymnastik kennen, noch in keiner Weise zum Handeln geeigneter." (Aristoteles, 384 - 322 v. Chr.)

Aristoteles, die Nuss. Trocken wie Schiffszwieback und hat doch immer Recht. Später wurde er Lehrer des Alexander, der wiederum Diogenes in der Sonne herumstand, womit sich die nahezu unheimliche Linie Aristoteles - Alexander - Diogenes - Beckenbauer ergibt.

"Ich weiß, dass ich nichts weiß." (Sokrates, ca. 470 - 399 v. Chr.)

Sokrates ist schlicht der Größte. Offizielle Berufsbezeichnung: Steinmetz. Nebenbei befragte er die Menschen, er machte das so hartnäckig, dass sie am Ende sich selbst erkannten, was nicht immer ein schönes Erlebnis ist. Heute berufen sich die ertappten Dopingsünder auf den großen Athener. Wenn sie erklären sollen, wie die verbotene Substanz in ihren Körper kam, werden sie zu Philosophen ersten Ranges, alles was sie dann noch wissen: dass sie nichts wissen. Sokrates hätte sicherlich seine helle Freude gehabt, gern hätte er Gewichtheben angeschaut, wo die Dichte seiner Schüler am größten ist.

Natürlich hätte er erkannt, dass sie etwas vollkommen falsch verstanden haben. Er hätte sich die Zeit genommen, diesen Irrtum geradezurücken, gerne hätte er das gemacht. Er hätte in der Pressekonferenz mit seinen Fragen begonnen, es hätte einige Stunden gedauert, doch irgendwann hätte auch der hartnäckigste Heber befreit erzählt, dass er weiß, wie die Substanz in seinen Körper kam, und dass er deshalb im Grunde wirklich überhaupt nichts weiß. Ob Sokrates mit dieser Fragetechnik im heutigen Leistungssport auf Dauer so gut ankäme, ist zweifelhaft, schon im antiken Athen ist er bekanntlich zum Tode verurteilt worden.

"Es ist eine wundervolle Geschäftsidee für Griechenland, so zu tun, als seien sie die unmittelbaren Nachfolger der antiken Griechen, als sei in der Zwischenzeit überhaupt nichts passiert." (Gunter Gebauer, 1944 n. Chr. - )

In der Tat ist die Idee ganz wundervoll, und noch wundervoller ist, dass die Welt, die hier zu Gast bei alten Freunden ist, bemerkt hat, dass in der Zwischenzeit doch ein, zwei Dinge passiert sind. Griechenland ist ein schönes Land, und es wohnen hier sehr freundliche Menschen, aber mit den Spielen haben sie nicht viel am Hut. Sie fahren auf die Inseln, wo sie schattenwerfende Störenfriede bitten, aus der Sonne zu gehen. Sie sitzen abends in der Innenstadt bei einem Glas und essen Nüsschen, ganz entspannt, wie sie das im Juli getan haben und wie sie es im September tun werden.

Sie erzählen: "Ach, es ist unser Naturell, alles auf die letzte Sekunde zu tun", das ist die Lieblingsgeschichte der modernen Griechen, und daran ist auch wenig auszusetzen, wenn es nicht gerade um die Spiele geht. Gebauer hat noch angemerkt, was die antike Tradition der Spiele hier in Athen angeht: "Man muss sich darüber im klaren sein, dass man dort in erster Linie in seinen Fantasien wandelt, und nicht in der Wirklichkeit." Gilt das nicht für die gesamte olympische Idee?

© SZ vom 28.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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