Arturo Vidal:Vulkan aus Fleisch und Blut

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"Diebstahl!" - "Clown!" - "Schande!": Münchens Hauptdarsteller Arturo Vidal fühlt sich nach seinem Platzverweis in Madrid betrogen.

Von Javier Cáceres, Madrid

Chile ist ein langes Land im Süden Amerikas mit der zweitdichtesten Vulkankette der Erde, nur die Philippinen haben noch mehr. Hunderte der dortigen Vulkane sind erloschen, 500 gelten als geologisch aktiv, sieben als besonders gefährlich. Der brodelndste aber findet sich nicht in den Aufzeichnungen des Nationalen Instituts für Geologie und Bergbau - er ist aus Fleisch und Blut, trägt eine Irokesen-Frisur, liebt den Thrill von Pferderennen und spielt beim FC Bayern München Fußball. Sein Name: Arturo Vidal.

Am Dienstagabend, als er das Bernabéu-Stadion nach der 2:4-Niederlage bei Real Madrid verließ, wirkte Vidal zwar auf den ersten Blick längst wieder erkaltet; es gab nicht eine einzige Frage, die er nicht mit einem Lächeln beantwortet hätte. Doch dieser Eindruck täuschte. Jedes Wort, das Vidal ausstieß, dampfte und qualmte vor sich hin, war von quasi eruptiver Gewalt getragen. Der Bayern-Profi fühle sich vom Schiedsrichter Viktor Kassai "ganz klar" betrogen, der Ungar habe sich "in einem erstklassigen Spiel zum Clown der Partie" aufgeschwungen, "seine Show abgezogen" und "die andere Mannschaft durchgewunken". Sprach also Arturo Vidal. Doch damit war der Vulkanausbruch noch lange nicht vorbei: "Es war ein Diebstahl, wie er in der Champions League nicht passieren darf. Mehr kann man denen nicht schenken", sagte er. "Das war unser Tag, wir hätten weiterkommen müssen. Ich spüre viel Zorn. Es ist eine Schande."

Schon mit dem vergebenen Elfmeter im Hinspiel nahm Vidal eine Schlüsselrolle ein

Einen Teil dieser Einschätzungen teilte er Kassai sogar persönlich mit, noch auf dem Rasen redete er auf ihn ein, in mutmaßlich derbem Ton. Dass Vidal derart aus der Haut fuhr, hat viel damit zu tun, dass er sich um einen lange gehegten Traum betrogen fühlte. Schon seit Wochen redete er vom Hunger auf die Champions League, die bislang nur ein einziger Chilene gewonnen hat, aber nur als Ersatztorwart: Vidals Nationalmannschaftskollege Claudio Bravo mit dem FC Barcelona. Nun schied Vidal nach einer K.o.-Runde gegen Real Madrid aus, in der er eine fast schon tragische Schlüsselrolle einnahm.

Im Hinspiel hatte er beim 1:2 das Tor ins Halbfinale erst aufgestoßen, durch einen Kopfballtreffer zum 1:0, aber dann machte er dieses Tor wieder ein Stück weit zu, als er kurz vor der Halbzeit, noch besoffen vor Glück, die Ausführung eines Elfmeters zum möglichen 2:0 an sich riss, den Ball allerdings übers Tor drosch. "Das hat schwer in ihm gegraben", sagt einer, der ihm bei den Bayern nahesteht - und es erklärt wohl auch, warum er am Dienstagabend in Madrid so übermotiviert zu Werke ging.

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(Foto: Daniel Ochoa de Olza/AP)

Kuriose Pointe: Ausgerechnet für ein sauberes Tackling...

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(Foto: Matthias Hangst/Getty Images)

...wurde der lange rotgefährdete Arturo Vidal (links) des Feldes verwiesen.

Nach nur sechs Minuten sah Vidal wegen eines Fouls an Isco die gelbe Karte - und bewegte sich fortan an der Schwelle zum Platzverweis. Dass er dabei ausschließlich "normale Fouls" beging, die nicht gelbwürdig waren ("Sonst hätte der Schiedsrichter heute alle runterstellen müssen") - diese Sichtweise hatte Vidal exklusiv. Vor allem sein Foul an Casemiro (47. Minute) war schon gelbrot-würdig.

Andererseits: Dass er in der 84. Minute tatsächlich zum zweiten Mal verwarnt wurde, nach seinem fünften Vergehen, musste er als bitteren Witz empfinden. "Ich habe klar den Ball getroffen und ihn nach hinten gespielt", sagte Vidal zu Recht - und er musste dafür nicht einmal die TV-Bilder sichten, die er sich im Doping-Kontrollraum des Stadions anschauen musste.

"Mir fehlen die Worte, es war nicht einmal ein Foul", sekundierte Mittelfeldkollege Thiago, der "kompetente Schiedsrichter" einforderte. Dass Vidal hinter seiner zweiten Verwarnung einen Vorsatz witterte, hatte viel damit zu tun, dass spürbar war, wie Kassai seine Linie verlassen hatte - nach dem Eigentor von Sergio Ramos zum 1:2 (78.), das die Bayern dem Halbfinale näher brachte. Profiteur war der Mann, der wie Vidal ebenfalls auf fünf Fouls kam: Real Madrids defensiver Mittelfeldmann Casemiro. Der Brasilianer hätte spätestens bei einem Foul an Arjen Robben die zweite gelbe Karte sehen und damit auch des Feldes verwiesen werden müssen (79.).

Es war auch zu sehen, wie Schiedsrichter Kassai instinktiv an seiner Brusttasche nestelte - um dann doch die Karte stecken zu lassen. Juckte ihn die Brustwarze? Oder erkannte er, als er zum Tatort lief, dass der Übeltäter Casemiro war, der schon in der 40. Minute verwarnt worden war?

Die Frage blieb, wie gut Bayern-Trainer Carlo Ancelotti beraten war, Vidal so lange auf dem Platz zu lassen. Nur: Vidal spielte, wie Ancelotti zertifizierte, eine wirklich gute Partie. "Es kann schon sein, dass Vidal etwas ruhiger sein müsste, aber die zweite gelbe Karte war ein Fehler", sagte Ancelotti. Vidal hatte tatsächlich große Präsenz - und ausweislich der Spielstatistik eine Passquote von 78 Prozent, was gemessen an dem Risiko, das er ging, durchaus bemerkenswert war. Das Problem ist, dass er eben nicht nur mit dem Ball am Fuß, sondern auch im Kampf mit dem Gegner am Limit wandelt, so auch auf dem Rasen des Bernabéu. Dass er sich selbst gern als "Guerrero" bezeichnet, als Krieger, spricht Bände; er ist stolz darauf, dass sein martialischer Look mit den vielen Tätowierungen den Gegnern Respekt einflößt.

"Wir haben Arturo gesagt: Pass auf, sonst fliegst du runter", verriet Arjen Robben. Doch der Versuch, Vidal zu einem Spiel wider die eigene Natur zu bewegen, lief genauso ins Leere wie die Lobby-Arbeit, die der Niederländer für den Chilenen beim ungarischen Referee Kassai betrieb: "Ich habe dem Schiedsrichter schon nach der ersten gelben Karte gesagt: Pass auf! Das ganze Stadion hat bei jeder Aktion von Arturo getobt, da darf man sich als Schiedsrichter nicht beeindrucken lassen", sagte Arjen Robben.

Und nun? In spanischen Medien wird bereits spekuliert, dass Vidal wegen seiner Suada gegen den Schiedsrichter für mehrere Spiele gesperrt werden könnte, der frühere Real-Madrid-Trainer José Mourinho wurde einmal wegen ähnlich gelagerter Kritik an den Referees der Champions League für fünf Partien gesperrt. Doch derlei würde erst kommende Saison greifen, bis dahin stehen für Vidal andere Sachen im Vordergrund. "Wir haben noch zwei wichtige Titel zu holen", sagte er mit Blick auf den DFB-Pokal und die Deutsche Meisterschaft. Die Champions League muss warten. "Wir werden nächstes Jahr wiederkommen und es erneut versuchen."

© SZ vom 20.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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