Argentiniens Fußball:versinkt im Chaos aus Gewalt und Betrug

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Die Aggressionen gediehen in mafiaartigen Strukturen und einer schweren Wirtschaftskrise, obwohl Argentinien derzeit wieder rapide wächst.

Peter Burghardt

Horacio Elizondo hat in seinen 43 Lebensjahren viel gesehen auf den Fußballplätzen dieser Erde. Bei der WM in Deutschland war der Argentinier ein Star und durfte als erster Schiedsrichter überhaupt Eröffnungsspiel und Finale leiten. Er hatte sogar die Ehre, den großen Zinédine Zidane vom Platz zu stellen. In seiner Heimat jedoch ist auch der neue König der Referees machtlos. Beim Lokalderby Independiente gegen Racing von Avellaneda am Rande von Buenos Aires erlebte Elizondo am Sonntag entsetzt, wie sich Horden von Racing-Fans mit der Polizei prügelten, Steine flogen und Gummigeschosse. ,,Wir haben eine Grenze erreicht, weiter geht es nicht'', warnte der Sportlehrer und Hobbypoet nachher. Umnebelt von Rauch pfiff er das Duell nach 64 Minuten beim Stand von 2:0 für die Gastgeber ab - der Sicherheitsbeauftragte des Stadions hatte ihn in letzter Not darum gebeten.

Fans bei einem Spiel von Independiente vor vier Jahren. (Foto: Foto:)

Viele Fußballfreunde würden nach dem vierten Abbruch binnen weniger Wochen am liebsten die gesamte Liga beenden, sie ist längst zu einer Mischung aus Gewalt und Betrug verkommen. Kommentatoren fordern die Suspendierung dieses ,,Torneo de Abertura'', des Eröffnungsturniers, in Argentinien wird jedes Halbjahr ein Pokal vergeben. Die Zeitung La Nación erschien mit vier schwarz gefärbten Trauerseiten im Sportteil und klagte über ,,den Virus der Straflosigkeit''. Laut Umfragen sind auch 75 Prozent der Zuschauer dafür, der gefährlichen Komödie frühzeitig den Vorhang zu schließen. So etwas habe er noch nie erlebt, berichtete Abwehrspieler Federico Lussenhoff von River Plate, das als Tabellendritter vier Spieltage vor Schluss kaum mehr eine Chance auf den Titel hat. Trainer Daniel Passarella wurde noch deutlicher: ,,Diese Meisterschaft ist eine Schande, wir sollten nicht weiterspielen.''

Höhepunkt der Farce war vergangene Woche die Partie Gimnasia de La Plata gegen Boca Juniors Buenos Aires, zweiter Teil einer Affäre. Den ersten Versuch hatte Regelhüter (und Boca-Anhänger) Daniel Gimenez einen Monat zuvor jäh beendet, nachdem ihm Gimnasias Präsident in der Halbzeit gedroht hatte, er werde ihn bei weiteren Entscheidungen gegen seine Elf umbringen. Bei der Wiederholung gingen die Gastgeber ohne Gegenwehr 1:4 unter - warum, das verriet der Gimnasia-Verteidiger Ariel Franco, der seither als Nestbeschmutzer gilt. ,,Wenn ihr nicht verliert, dann schießen wir jedem von euch eine Kugel ins Bein'', hätten die eigenen Fans gedroht. Noch wichtiger als ihr Team ist ihnen, dass der verhasste Lokalrivale Estudiantes nicht Meister wird, deshalb sollte Tabellenführer und Dauerchampion Boca gewinnen. Die Spieler nahmen die Angst vor Blei ernster als das Angebot von River, für einen Sieg gegen Boca 3000 Dollar pro Mann entgegenzunehmen.

Mittlerweile wurden die Zeugen vor Gericht zitiert, doch außer dem mutigen Franco bekommt angesichts des Terrors offenbar kaum einer den Mund auf. Selbst gestandene Profis zittern vor den eigenen Hooligans, den sogenannten Barras Bravas, die so harmlose Kürzel tragen wie La 22 (Gimnasia) oder La 12 (Boca). Führende Radikale gehören zu einem korrupten Netzwerk aus Politik, Verbänden und Behörden, deren Befehl Gesetz ist. ,,Man muss etwas unternehmen, damit der Fußball ehrlicher wird'', fleht die Ikone Diego Maradona, herzkranker und magenverkleinerter Logenbesitzer bei Boca Juniors. ,,Der Ball ist schmutzig, aber am wenigsten dreckig machen ihn die Spieler.'' Weltmeistertrainer Cesar Luis Menotti sagte es so: Noch gefährlicher als die offenkundigen Randalierer seien ,,die Diebe mit den weißen Handschuhen''.

Unter anderen meint er vermutlich Julio Grondona, seit 1978 berüchtigter Chef des nationalen Fußballverbandes Afa und außerdem maßgebliche Gestalt der Fifa-Nomenklatur. Der betrachtete das Chaos weitgehend teilnahmslos, ehe nach ebenfalls ausdauerndem Zögern die Politik intervenierte. Der Innenminister protestierte, der zwielichtige Gouverneur der Provinz Buenos Aires forderte die Funktionäre zu Maßnahmen auf. Andernfalls werde man keine Polizisten mehr in die Arena schicken, auch das kam bereits vor und verhinderte ein Spiel. Daraufhin verkündete die Afa am Dienstag ihre Entscheidung. Schlachtenbummler des jeweiligen Gästeteams haben bis auf weiteres keinen Zutritt mehr in fremden Stadien. Und der Klassiker Racing gegen San Lorenzo findet vor leeren Rängen in La Plata statt. ,,Damit sich dieser ganze Wahnsinn beruhigt'', wie Pate Grondona erläuterte. ,,Ciao, Fans'', schreibt das Blatt Clarin und hält die Strafaktion für heuchlerisch.

Die Ursachen liegen tiefer. Die Aggressionen gediehen in mafiaartigen Strukturen und einer schweren Wirtschaftskrise, obwohl Argentinien derzeit wieder rapide wächst. Schiedsrichter Elizondo hob an zur Gesellschaftskritik. Er vermisst ,,Werte und Prinzipien, wir brauchen Beispiele''. Man dürfe sich einer Minderheit nicht fügen. Beim Skandalspiel trug er ein grünes Hemd, hinten drauf stand ,,Clasico de Avellaneda, Independiente-Racing Club''. Zum Schluss fehlte ein Zusatz: abgebrochen.

© SZ vom 16.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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