Argentinien:Ein Werk, das die Mannschaft definiert

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20 Jahre nach Maradonas Jahrhunderttreffer gegen England feiert Argentinien wieder ein Tor als Spiegel seiner Spielweise.

Peter Burghardt

Das Publikum im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt traute seinen Augen kaum, als in der flirrenden Hitze des 22. Juni 1986 ein kleiner Mann antrat. Gerade hatte Diego Maradona in diesem WM-Viertelfinale den Ball mit der Hand ins englische Tor geboxt, nun holte er sich sein Spielzeug in der argentinischen Hälfte mit dem Fuß.

Der Spieler mit der Nummer 10 auf dem weißblauen Trikot umkurvte im rechten Mittelfeld Peter Beardsley und Peter Reid, ließ am Strafraum die Verteidiger Terry Fenwick und Terry Butcher stehen, schickte mit einer Körpertäuschung den Torwart Peter Shilton ins Leere und vollendete sein Kunstwerk mit einem strammen Schuss zum 2:0.

Es staunten 114,000 Zuschauer auf den Rängen und 21 Kollegen auf dem Rasen. "Kosmisches Tönnchen, von welchem Planeten bist du gekommen?" schrie Radioreporter Victor Hugo Morales ins Mikrofon und weinte. Es war das Tor des Jahrhunderts. Eine Woche danach wurde Argentinien Weltmeister.

Maradonas Erben

Ziemlich genau zwei Jahrzehnte später erlebte Maradona zwischen 50.000 Menschen im Fanblock der Schalker Arena, wie seine Erben am Freitag ein gemeinsames Opus auf den Platz zeichneten. Es begann bei Mittelfeldspieler Maxi Rodriguez und führte mit flinken Kurzpässen über die Abwehr mit Juan Pablo Sorin ins Zentrum mit Regisseur Juan Roman Riquelme und in den Angriff.

Mit Javier Saviola spielte Riquelme einen doppelten Doppelpass, Hernan Crespo schließlich bediente mit dem Absatz Esteban Cambiasso, der schoss kraftvoll ein. Bis zum Abschluss wurden 25 Stationen gezählt, Serben und Montenegriner waren Staffage wie bei Maradonas legendärem Alleingang gegen die Engländer.

Am Ende gewann Argentinien 6:0, Cambiassos 2:0 war der Höhepunkt. Für Saviola war es "das schönste Tor, weil wir alle den Ball berührt haben", und Kapitän Sorin fand: "Das Tor war die Synthese unseres Spiels, es definiert uns."

Wahrscheinlich illustrieren die beiden Traumtreffer von einst und jetzt ziemlich gut, wie sich die Auswahl vom Rio de la Plata in diesen 20 Jahren nach dem letzten Titel verändert hat. Seinerzeit war Maradona die alles dominierende Figur, um ihn allein drehte sich das Spiel der Albiceleste, er und nur er gab die Richtung vor.

Jetzt sind es elf Profis, dirigiert von Trainer Jose Pekerman, der die meisten seit ihrem Kindesalter kennt. Besser als bisher dieses Ensemble war kein argentinisches Team seit jener WM 1986, und vielleicht noch mehr als damals ist es ein Kollektiv. "In dem Spielzug haben wir bewiesen, dass wir eine Mannschaft sind", erläuterte Riquelme, er meinte das 2:0 gegen Serbien/Montenegro.

"Wenn eine Gruppe vereint ist und glücklich, dann passieren solche Sachen. Wir mögen es, den Ball laufen zu lassen." Torschütze Cambiasso berichtete, "man genießt das noch mehr als dabei zuzusehen, wie ein einzelner Spieler alle zehn ausdribbelt".

In solchen Momenten hat Maradona gleich mehrere Nachfolger, vorneweg zunächst Riquelme, der wie er früher die 10 auf dem Rücken trägt. Auch zwei weitere Kandidaten durften sich in der zweiten Halbzeit endlich zeigen und taten dies mit zwei ebenfalls außergewöhnlichen Toren, Carlos Tevez und Lionel Messi. Pekerman konnte die zwei bisher auf der Bank sitzen und ausruhen lassen, es reichte ja auch ohne sie.

Messi ist nun mit 18 Jahren und 357 Tagen der jüngste Argentinier bei einer WM, sein spektakulärer Kurzeinsatz mit Maradonas Segen stellte neben Anhängern und Berichterstattern auch fürs erste ihn selbst zufrieden.

Mehrfach widersprach der umschwärmteste Reservist dieser WM danach mit seiner Kinderstimme dem Gerücht, er habe als Ersatz schlechte Laune bekommen. "Als ich nicht spielen durfte, habe ich nichts gesagt", flüsterte Messi. "Wir sind eine fantastische Gruppe, und es gab nie Probleme. Ich habe drauf gewartet dranzukommen, nichts weiter. Ich wollte rein wie jeder andere."

Das war leicht geflunkert von einem, der die große Nummer dieser WM werden soll, aber tatsächlich scheint sich Pekermans Belegschaft trotz des ausgeprägten Konkurrenzkampfes prächtig zu verstehen. "Wir amüsieren uns", sagt Stürmer Crespo.

Alte Gespenster vertrieben

Nach Schlusspfiff sangen sie vereint auf dem Spielfeld Fanlieder, und die Übungsschicht am Samstag war sehr entspannt, auch ein Maradona-Double vom argentinischen Fernsehen war angereist. Die Gespenster Asiens, wo vor vier Jahren nach der Vorrunde Feierabend war, wurden erfolgreich vertrieben.

"Zuhause gab es eine Psychose wegen dem, was 2002 passiert ist, aber wir hatten viel Selbstvertrauen", erläutert Cambiasso. Fragt sich bloß, ob diese Gelsenkirchener Gala nicht zu früh kam im zweiten Auftritt bei dieser WM - im günstigsten Fall stehen noch fünf weitere Partien bevor, das Niveau dürfte schwer zu halten sein.

"Wir müssen bescheiden bleiben", rät Tevez weise, "jeder weiß, dass wir noch nichts erreicht haben." Die nächste Prüfung steht am Mittwoch in Frankfurt gegen die Niederlande an, es geht um Gruppenplatz eins und die Frage, ob man in Nürnberg oder Leipzig zum Achtelfinale antritt und gegen Mexiko oder Portugal, die beide unangenehmer sind als die lustlosen Rivalen vom Balkan.

Der echte Maradona wird wieder im Nationaltrikot dabei sein und sehen, wie sie zusammen hinkriegen, was er manchmal allein gemacht hatte. Ein Tor wie seines von 1986 wird vorläufig wohl keiner mehr schießen. "Auch nur eines mit der Hälfte der Haken, wie sie Diego geschlagen hat, kann man sich kaum vorstellen", sagt Cambiasso. "Heute hauen sie dich nach dem zweiten Haken um." Also teilen sie sich die Arbeit.

© SZ vom 19.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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