Anni Friesinger:Der Zugvogel, das Nest und die Häuser

Lesezeit: 6 min

Auf ihrer Reise in die Freiheit kehrt die Olympiasiegerin Anni Friesinger immer wieder nach Inzell zurück - diesmal zur Eisschnelllauf-WM.

Von Josef Kelnberger

Um Frauenbilder soll es am Ende gehen. Da sei sie aber gespannt, erwidert Anni Friesinger, welches Frauenbild sie ausfülle. Genau das aber soll sie selbst erklären, schließlich ist sie nach dem Rücktritt Franziska van Almsicks die populärste deutsche Sportlerin - muss sie da nicht eine Botschaft verkörpern über den Sport hinaus?

Anni Friesinger erschöpft nach einem Rennen. (Foto: Foto: ddp)

Man kann ihr bei diesem Thema durchaus auf die Nerven gehen, wenn man zum Beispiel fragt, ob nicht dieses Foto zu gewagt sei und jenes Kleid, nun ja, zu knapp?

Irgendwann bringt sie dann Madonna ins Spiel. Die Pop-Ikone mit den vielen Identitäten sei Idol, zumindest Schwester im Geiste: "Workaholic, Trendsetterin, und sie kümmert sich auch nicht um das, was die Leute sagen." Sie bewegt sich an dem Punkt natürlich, um im Bild zu bleiben, auf dünnem Eis.

Aber wichtiger als darüber zu reden ist es, eine Rolle zu leben. Und ihren Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung führt die Chiemgauer Eisschnellläuferin ohnehin meist jenseits von Superstar-Sphären, mit bemerkenswerter Hingabe bei allen Widersprüchen.

Unscheinbar unter einer blauen Mütze, im blauen Anorak ist sie zum Gespräch erschienen. Nach dem Training ist vor dem Training, und die Wege zwischen Salzburg, ihrem Wohnort, und Inzell, wo sie trainiert, rauben ihr zusätzlich Zeit. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt, einfach.

Ein bissl Kultur, ein bissl Anonymität

Sie ist in drei Jahren ein einziges Mal auf dem Mönchsberg gewesen, der sich drüben auf der anderen Seite der Salzach erhebt. Das war für ein TV-Interview, aber ins Museum der Moderne, für das sie schwärmt, hat sie es nicht geschafft.

Doch sie fühlt sich in dieser Stadt geborgen, wenn sie beim Gespräch auf der Dachterrasse eines Cafés den Blick schweifen lässt. Sie sagt: "Ich will ein bissl Kultur, ein bissl Anonymität. Ich muss auch mal um die Häuser ziehen, ich bin nicht der asketischste Athlet."

Vermutlich ist das um-die-Häuser-ziehen nur so eine Möglichkeit, die das Gefühl der Freiheit ausmacht. Aber darauf kommt es gar nicht an. Es weiß nicht mehr jeder Bescheid über sie beim Metzger und beim Bäcker. Es fällt nicht mehr jeder ein Urteil. Zumindest dieses Gefühl bedrängte sie zu Hause, in Inzell.

Nun ist es nicht so, dass die Eisschnellläuferin ein Trauma abarbeiten müsste, wenn sie diese Woche in Inzell bei der Einzelstrecken-Weltmeisterschaft läuft und zwei Titel zu verteidigen versucht, trotz schmerzhaft lädierter Zehe.

"Eine WM in Inzell ohne Friesinger ist nun wirklich undenkbar", hat Anni Friesinger tapfer erklärt. Sie nennt Inzell mit seinen 5000 Einwohnern einen "wunderbaren Ort", wo sie eine "wunderbare Jugend" verbracht habe. Sie ist nicht weit von der Eislaufbahn aufgewachsen. Ihre Mutter lebt in Inzell, Jan und Agnes, ihre Geschwister ebenfalls.

"Alles dreht sich hier ums Eislaufen"

Die beiden trainieren mit ihr in der Gruppe des Inzeller Coaches Markus Eicher. Sie weiß um ihren Heimvorteil, sie weiß aber auch: "Das bedeutet Druck." Und mehr Druck lässt sich für sie gar nicht vorstellen als in Inzell: "Alles dreht sich hier ums Eislaufen." Deshalb ist sie ja weggezogen. Aber nicht weit weg gekommen, trotz ihres Aufstieges.

Anni Friesinger, 28 Jahre alt, ist die beherrschende Figur der Eisschnelllauf-Szene. Sie wird gesponsert von der Fiat-Tochter Lancia mit Blick auf Olympia 2006 in Turin, wo sie ihren sportlichen Zenit erreichen soll, und vom international operierenden Wäsche-Produzenten Triumph.

Den Zickenkrieg mit Claudia Pechstein vor Olympia 2002 hätte sie nicht gebraucht, der hat ihr eher geschadet und der Rivalin genutzt sowie der ganzen Sportart, die, wie Friesinger das nennt, "früher eher trocken war". Dass sie in bunten Blättern als Busenwunder und Sexy Anni erscheint, mit ihrer Trennung von ihrem Lebensgefährten gerade wieder Schlagzeilen gemacht hat, lenkt sie längst nicht mehr ab vom Sport.

Die optimale Sportlerin

Friesinger ist, wie Trainer Eicher findet, zur "optimalen Sportlerin" gereift: detailversessen, offen für neue Methoden, mit ausgeprägtem Arbeitsethos. Wie sie sich nach dem verkorksten Saisonstart aufrappelte, Welt- und Europameisterin wurde, findet er "genial".

Anfang des Jahres verzichtete sie auf die Gala des deutschen Sports in Baden-Baden, wo sie als Zweite der Wahlen zur Sportlerin des Jahres 2004 gefeiert werden sollte. Das, findet Eicher, zeige, wie sie das Gleichgewicht zwischen Öffentlichkeit und Sport gefunden hat: "eine selbstbestimmte Athletin, ein Vollprofi". Umso bemerkenswerter, wie sehr sie am Trainer hängt, und damit an ihren Wurzeln.

Vor dieser Saison spielte Eicher mit dem Gedanken, den Trainerjob aufzugeben. Das hat er sofort bereut, denn seine Athletin reagierte geschockt. Friesinger bestätigt: "Ich hab' ihm gesagt: Wenn du aufhörst, bin ich weg aus Inzell."

Eicher kümmert sich im Inzeller Gemeinderat um die Probleme des Inzeller Tourismus, gleichzeitig ist er als Trainer dafür verantwortlich, dass Inzell sein Aushängeschild erhalten bleibt. Eicher, 51, betreut Anni Friesinger, seit sie 13 ist. Er brachte ihr, damals Inzeller Schwimmmeister, schon das Schwimmen bei, als sie vier Jahre alt war. Doch ihre Beziehung reicht noch tiefer. Eicher war Freund ihres Vaters und lange Annis Ersatzvater.

Georg Friesinger starb 1996 mit 43 Jahren an einem Hirnschlag. In der Zeit hat Anni Friesinger einmal ihren Traum von einem gemeinsamen Abend zusammen mit Jim Morrison, dem jung verstorbenen Sänger der Doors, und ihrem Vater ausgebreitet.

Es wirkte wie ein morbider Spleen, aber es war ihr Versuch, ihr Trauma darzustellen. Noch immer hat sie damit zu kämpfen. Sie sagt: "Die Zeit heilt angeblich alle Wunden. Aber manche heilen nie." Und nach einer Pause, lächelnd: "Mein Vater ist mein Idol. Deshalb haben es die Männer so schwer mit mir. Ich mess' sie alle an ihm."

Ihren "Dickschädel" habe sie vom Vater geerbt, glaubt Anni Friesinger, und diesen Dickschädel nennt sie ihre hervorragendste Eigenschaft. Er hat ihr immer wieder geholfen, Rückschläge wegzustecken. Sorgen um ihre schwer kranke Mutter, Rückenbeschwerden, chronisches Asthma.

Ihre acht Jahre jüngere Schwester Agnes habe mehr Talent und bessere Anlagen, sagt Friesinger, "aber sie hat nicht den Dickschädel wie ich". Sie braucht niemanden, der ihr Beine macht, eher jemanden, der sie bremst.

Das Gleichgewicht findet sie in der Auseinandersetzung mit Markus Eicher, die manchmal durchaus laut ist. "Der Chef bin scho i", sagt Eicher, spricht man auf ihr Verhältnis an. - "Im Training, ja", sagt Friesinger. "Es gibt keinen Besseren."

"Ich bin im Team schon der Commander"

Sie legt aber Wert darauf, dass sie voneinander profitieren. Sie hat Sponsoren angezogen und über ihren Manager dem ganzen Team Verträge besorgt, auch dem Trainer. "Das hätte ich nicht machen müssen." Sie sei durchaus eine Teamspielerin, "aber ich bin im Team schon der Commander".

Der Chef und seine Frau Commander, nichts anders als diese Beziehung halte sie in Inzell, sagt Anni Friesinger bestimmt. Jenseits steuerlicher Überlegungen geht es um ihr Selbstverständnis, man muss das gar nicht gegen Inzell wenden. Sie sei ihrem Heimatort nichts mehr schuldig, sagt sie. "Wo ich lebe, hat mir niemand zu befehlen. Ich bin halt ein Zugvogel."

Der Vogel hat so ganz das Nest aber nicht verlassen. Damals vor drei Jahren war sie kurz davor, in die Niederlande zu ziehen, zu Eisschnelllauf-Olympiasieger Ids Postma. Als die Beziehung in die Brüche ging, kaufte sie die 130 Quadratmeter große Altbauwohnung in Salzburg. Holland, das wäre eine wirkliche Abnabelung gewesen, und Holland wäre die erste Option, falls sie und Eicher sich tatsächlich trennen sollten.

Vielleicht gäbe ihr das sogar einen zusätzlichen Schub auf ihrem sportlichen Weg, der bis Olympia 2010 führen soll. Sie schwärmt von Heerenveen, von dem Dröhnen in der Arena mit 13000 Zuschauern. In den Niederlanden ist Eisschnelllauf Volkssport, dort wird sie als Sportlerin verehrt, "als Eisschnellläuferin dieses Jahrhunderts", wie sie stolz erzählt. Und man würde sie nicht über Dekolletees definieren und nach Botschaften fragen - dabei ist es nicht so, dass ihr diese Themen nicht gefallen würden.

Sex und Training

Politik sei "nicht so mein Ding", sagt sie, und das Thema Gleichberechtigung geht glatt an ihr vorbei, weil sie sich nicht betroffen fühlt. Dass sie von männlichen Funktionären, Trainern, Journalisten umgeben ist, stört sie schon deshalb nicht, weil sie findet, "es gibt keine Frauen, die so stark sind wie ich".

Kurz studierte sie einmal Innenarchitektur, ihre gestalterische Ader lebt sie nun beim Einrichten der Wohnung ebenso aus wie in der Zusammenarbeit mit Sponsoren. Und auch ihre Auftritte vor Mikros und Kameras nimmt sie als Gelegenheit, sich auszudrücken. Dass sie manche auf ihren Ausschnitt reduzieren, muss sie in Kauf nehmen, solange sie freiwillig darüber spricht, wie sich Sex und Training vertragen.

Sie hat Spaß daran, zu posieren und zu polarisieren. Das sei keine Masche, nicht das Werk von Manager Klaus Kärcher. "Ich war schon früher so", sagt Friesinger. "So bin ich, und ich werde mich nicht ändern."

Das Rollenbild der Eisschnellläuferin Anni Friesinger muss nicht jedermann gefallen, aber anders als Madonna, ihr Idol, kommt sie mit einer Identität aus. Und sie fühlt sich wohl darin. Irgendwann, sagt sie, wolle sie auf der Ofenbank sitzen und ihren Enkeln stolz alte Fotos von sich zeigen: "Schaut her, das war eure Oma!"

© SZ vom 3.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: