36. Bayern-Rundfahrt:Einfahren für die Tour

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Als Gewinner von Mailand-San Remo und Paris-Roubaix ist John Degenkolb die große Rad-Hoffnung. In Bayern arbeitet er auf den Jahreshöhepunkt hin.

Von Christian Bernhard

Das Niemandsland ist nur in den seltensten Fällen ein erstrebenswerter Ort. Vom Abstieg bedrohte Vereine freuen sich im Saison-Endspurt, wenn sie dieses Gebiet betreten - sie dürften damit aber die einzigen sein. John Degenkolb befindet sich gerade auf solchem Gebiet.

Er sei im Niemandsland, wisse nicht so richtig, wo er stehe, sagte der Radprofi am Montag, wirkte dabei aber locker und entspannt. Seine lässige Kleidung und die Sonnenbrille im Hemdkragen untermalten diesen Eindruck. Es ist nämlich so: Degenkolbs Niemandsland ist ein recht attraktiver Ort. Nicht auszuschließen, dass er direkt ans Schlaraffenland grenzt.

Degenkolb ist das Gesicht der 36. Bayern-Rundfahrt, die diesen Mittwoch in Regensburg beginnt und nach fünf Etappen am Sonntag in Nürnberg enden wird. Rundfahrtleiter Ewald Strohmeier verwies darauf, dass schon andere große Namen bei der Rundfahrt am Start gewesen seien und zählte dabei Bradley Wiggins, Fabian Cancellara, Erik Zabel oder Jan Ullrich auf. Doch wohl keiner war zum Zeitpunkt des Rundfahrt-Starts so im Fokus wie aktuell Degenkolb. Der 26-Jährige vom Team Giant-Alpecin hat unglaubliche Wochen hinter sich, mit Mailand-San Remo und Paris-Roubaix hat er zwei der größten Frühjahrs-Klassiker gewonnen, er spricht zurecht von einem "bombastischen Frühjahr" und "historischen" Erfolgen. Sinnbild dafür ist der 15 Kilogramm schwere Pflasterstein, den der Paris-Roubaix-Sieger erhält - und der nun erstmals überhaupt in einem deutschen Wohnzimmer steht.

Auf John Degenkolb (hier beim Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix) haben die Veranstalter der Bayern-Rundfahrt das Streckenprofil ausgerichtet. (Foto: imago)

Als er vom Niemandsland sprach, meinte Degenkolb seine aktuelle Form. Nach dem Paris-Roubaix-Triumph Mitte April hatte er die Füße eine Woche lang hochgelegt, erst dann stieg er wieder ins Training ein. Die Bayern-Rundfahrt ist nun sein erstes Rennen seither. "Ich versuche, wieder den Rhythmus zu finden", sagte er, dabei sei er aber "sehr entspannt und locker" und mache sich "keinen großen Druck". Da passt es nicht schlecht, dass ihm der Streckenverlauf in Bayern liegen dürfte. Das Profil der diesjährigen Bayern-Rundfahrt sei auf Degenkolb zugeschnitten, sagt jedenfalls Strohmeier. Anders als im Vorjahr, als es auf die Winklmoos-Alm ging, gibt es diesmal keine Bergankunft, was dem Sprinter zugute kommt. Nur das 26,1 Kilometer lange Einzelzeitfahren am vorletzten Tag ist Degenkolb zu lang. "Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn es zehn Kilometer kürzer ausgefallen wäre", meinte er schmunzelnd.

Degenkolb ist in Gera geboren, zog aber im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach Bayern und wuchs im mittelfränkischen Weißenburg auf, wo er auch mit dem Radsport begann. Noch heute sind ihm die Rennen rund um die Nürnberger Altstadt in bester Erinnerung, wo die Nachwuchsfahrer die Möglichkeiten hatten, ganz nah an die Profis zu kommen, um Trinkflaschen oder Verpflegungsbeute abzustauben. Deshalb sei die Bayern-Rundfahrt auch mehr als nur ein "Schritt Richtung Tour de France". Die Anfang Juli beginnende Frankreich-Rundfahrt ist das große Saisonziel, der erste Etappensieg beim bekanntesten Radrennen der Welt soll her. Die 36. Bayern-Rundfahrt, die als einziges deutsche Mehretappenrennen auch in diesem Jahr zeitgleich zum Giro d'Italia und zur Kalifornien-Rundfahrt stattfindet, habe in diesem Jahr deshalb "perfekt" in seinen Zeitplan gepasst, sagt Degenkolb. Er ist überzeugt: "Eine Woche Etappenrennen zu fahren, wird mir für die Tour helfen".

Degenkolb bekommt seit seinem Erfolg Fragen nach dem großen Ganzen gestellt, etwa: "Wie lebt es sich als Gesicht des deutschen Radsports?" Doch er geht mit dem plötzlichen Interesse souverän um. Eigentlich komme er "ganz gut damit zurecht", sagt er lächelnd. Der Radprofi wird seitdem fast täglich auf der Straße erkannt, manchmal drehen die Menschen sich für ein Autogramm extra um. Der 26-Jährige bezeichnet all das als "schöne Situation", er kriege nun "auch ein bisschen was zurück". Gleichzeitig sei er sich seiner Vorbildfunktion und Verantwortung "ganz klar" bewusst: "Wir haben immer gesagt, dass wir diese Verantwortung übernehmen und dem Ganzen ein Gesicht geben wollen, denn anders wären wir auch nicht vorangekommen." Mit "wir" meint er die neue Fahrer-Generation, die in der Öffentlichkeit deutlich Stellung gegen Doping bezieht. Er sei "stolz darauf, dass ich in einer Zeit Profi bin, wo man solche Monumente wie Mailand-San Remo und Paris-Roubaix gewinnen kann, ohne sich mit irgendwelchem Zeug vollzupumpen".

Verbotenes Verhalten im Peloton kann aber auch er nicht ausschließen. Es werde "immer Leute geben, die zu schnell auf der Autobahn fahren, die Steuern hinterziehen, die eine Bank ausrauben", erklärt Degenkolb. "Ich kann nur sagen, dass man in der heutigen Zeit sauberen Radsport betreiben und auch erfolgreich sein kann."

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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