Zum Nordpol und zurück (XIII):"Plötzlich wollten alle nackt baden"

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Viktor Boyarsky kämpfte sich mehrmals zu Fuß durch Arktis und Antarktis. Jetzt schippert er Touristen an den Nordpol. Ein Gespräch über das Leben zwischen zwei Polen.

Birgit Lutz-Temsch

Koordinaten: 79 Grad nördlicher Breite, 49 Grad östliche Länge. Geschwindigkeit: 13,9 Knoten. Temperatur: elf Grad.

(Foto: Grafik: Samuel Schrott)

Eine Fahrt zum Nordpol mit dem Eisbrecher mag den Namen Expedition nicht unbedingt verdienen. Um in dieser Region agieren zu können, braucht es dennoch Erfahrung: um Landgänge und Helikopter-Einsätze sicher zu gestalten, das Verhalten des Eises zu verstehen und zu wissen, was jederzeit passieren kann. Der Russe Viktor Boyarsky, 57, ist seit 34 Jahren in Arktis und Antarktis unterwegs, als Wissenschaftler, Teilnehmer an Expeditionen und jetzt als Leiter der Nordpol-Fahrten mit der Yamal. Ein Gespräch über das Leben zwischen zwei Polen und die Entwicklung des Tourismus in bislang unberührten Gebieten.

sueddeutsche.de:Glückwunsch, Sie waren gerade zum 50. Mal am Nordpol.

Viktor Boyarsky: Ja, danke! Aber nur die Hälfte davon bin ich mit dem Schiff gefahren. Die anderen Trips waren Skitouren.

sueddeutsche.de: Wie war Ihr Weg ins Eis?

Viktor Boyarsky: Mit der Yamal begann ich zu fahren, nachdem ich mit internationalen Expeditionen erst die Antarktis und dann die Arktis durchquert hatte. Eigentlich sollte ich - wie mein Vater - Seemann werden. Ich schaffte aber wegen meiner schwachen Augen die Aufnahmeprüfung auf der Militärakademie nicht. Also habe ich Ingenieurwissenschaften studiert, in St. Petersburg. Ich wollte einen Weg finden, trotzdem irgendwie in die Welt hinauszukommen.

sueddeutsche.de: Wie ist Ihnen das gelungen?

Boyarsky: Als ich 1973 meinen Abschluss machte, wurden den Absolventen verschiedene Möglichkeiten angeboten. Man konnte in der Reihenfolge der Noten auswählen. Ich war auf Rang sieben von 200, und es gab genau eine Stelle im russischen Arctic and Antarctic Research Center in St. Petersburg. Sie suchten jemanden für wissenschaftliche Arbeiten über das Verhalten von Eis und Schnee. Genau das, was ich wollte. Ich hoffte also, dass die sechs vor mir diese Stelle nicht wollten.

sueddeutsche.de: Und sie wollten nicht.

Boyarsky: Nein! Was für ein Glück! Ich begann im Februar 1973 meine Arbeit in St. Petersburg, und schon nach einem halben Jahr wurde ich zum ersten Mal in die Antarktis geschickt. Am 9. Dezember 1973 kam ich in die russische Station in Wostok, dem kältesten Ort der Erde.

sueddeutsche.de: Wie war der erste Aufenthalt?

Boyarsky: Vor allem war ich überwaltigt von der Stille und dem Schnee. Infiziert! Es hatte 40 Grad minus, und wir kamen in einer Höhe von 3000 Metern an. Wegen der elliptischen Form des Globus ist die Luft an den Polen dünner - diese 3000 Meter entsprechen etwa 5000 Metern in Europa. Jeder reagiert anders auf solche Bedingungen. Mein Kollege wurde noch im Flugzeug komplett lila im Gesicht. Aber ich hatte keinen Spiegel und wusste nicht, wie ich aussehe. Ich machte dann den Fehler, loszurennen, weil ich etwas im Flieger vergessen hatte. Und wurde ohnmächtig.

sueddeutsche.de: Wie lang haben Sie in der Antarktis gearbeitet? Boyarsky: Bis 1987 war ich als Wissenschaftler auf fünf Expeditionen in der Antarktis und sechs in der Arktis, unter anderem habe ich auf Driftstationen im Polarmeer überwintert. 1987 hörte ich auf damit.

sueddeutsche.de:Warum?

Boyarsky: Ich bekam das Angebot, auf einer internationalen Expedition die Sowjetunion zu repräsentieren. Ein Team aus sechs Nationen sollte die Antarktis auf dem längsten Weg durchqueren. Zu Fuß, mit Schlittenhunden.

sueddeutsche.de: Warum Sie?

Boyarsky: Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ich war zwar sportlich, schwamm und lief viel. Aber ich war trotzdem überrascht.

sueddeutsche.de: Wer hatte diese Expedition organisiert?

Boyarsky: Das Ganze war die Idee der Polarforscher Jean-Louis Etienne aus Frankreich und Will Steger aus den USA. Sie dachten sich diese verrückte Geschichte aus, weil sie so sicher sein konnten, dass sie eine Menge Aufmerksamkeit bekommen würden. Niemand glaubte ihnen, dass man die Antarktis in einer Saison durchqueren kann. Diese Route ist 6500 Kilometer lang.

sueddeutsche.de: Was muss man für ein Mensch sein, um das zu überleben?

Boyarsky: Ehrlich gesagt: Ich konnte bis dahin kaum Skifahren. Ein bisschen Langlauf, ja. Aber Abfahrt nicht. Das kann ich immer noch nicht richtig. Als sich das Team zum ersten Mal traf, war ich ziemlich besorgt. Da waren Etienne und Steger, die gerade von einem Ski-Trip zum Nordpol zurückkamen. Und die anderen aus China, Japan und Großbritannien, ebenfalls erfahrene Leute. Und ich. Ich konnte weder Skifahren noch Englisch, und sollte mein Land repräsentieren. Die beiden haben sich am Anfang ziemlich gewundert, was die Russen da für einen Typ geschickt haben.

Viktor Boyarsky (Foto: Foto: bilu)

sueddeutsche.de: Wie sollte dann die Vorbereitung aussehen?

Boyarsky: Das habe ich die anderen auch gefragt. Aber die waren ja gut im Training. Ich musste selbst zusehen, wie ich die nötigen Fähigkeiten bekam. Ich machte einen Englisch-Crashkurs. Und steigerte mein Sportprogramm. Im März 1988 machten wir dann ein Training in Minnesota, einen Monat lang, und gleich danach durchquerten wir Grönland von Süden nach Norden. Das sind 2200 Kilometer und es dauerte zwei Monate, also ungefähr ein Drittel der Zeit, die wir für die Antarktis schätzten.

sueddeutsche.de: Und wie war es für Sie?

Boyarsky: Die ersten 1000 Kilometer bin ich einfach mitgelaufen, es war okay. Dann ging ich in Führung. Ich war derjenige, der den Hunden den Weg durch das Eis zeigte. Es war ein Supertraining. Am 27. Juli 1989 starteten wir dann die Expedition auf der chilenischen March Station. Und am 3. März 1990 kamen wir an der russischen Mirny Base an, nach 221 Tagen. Es lief wunderbar.

sueddeutsche.de: Bekamen Sie die erhoffte Aufmerksamkeit?

Boyarsky: Oh ja. Wir wurden von allen Staatspräsidenten der teilnehmenden Nationen eingeladen. Zu Francois Mitterand nahmen wir zwei Schlittenhunde mit, Panda und Sam. Er mochte sie, auch wenn sie ein bisschen seltsam rochen. Wir kamen direkt aus der Antarktis und sahen alle ziemlich wild aus. Zu George Bush nahmen wir nur Sam mit - aber das Weiße Haus verlangte, dass wir ihn vorher waschen. Mit Shampoo. Das hat er gehasst.

sueddeutsche.de: Was kam danach?

Boyarsky: Will Steger wollte ein neues Projekt anfangen, das ebenso spektakulär sein sollte. Die Durchquerung der Arktis von Kanada nach Russland, wieder in einer Saison. Das machten wir dann 1995. In einem Team von sechs Leuten, zwei davon Frauen, und 33 Schlittenhunden.

sueddeutsche.de: Lief das auch so gut?

Boyarsky: Nein. Der Anfang war eine Katastrophe. Bei 43 Grad minus lief ein Hundeteam schnurstracks in eine aufgebrochene Wasserstelle. Und der dänische Teilnehmer und ich fielen hinterher. Nach nur drei Stunden. Ein Filmteam wollte aus der Luft unseren erfolgreichen Start aufnehmen. Und hätte beinahe gefilmt, wie wir alle draufgingen. Tolle Sache.

sueddeutsche.de: Wie kamen Sie da wieder heraus?

Boyarsky: Schwer. Der Däne wollte nicht mehr. Er kehrte um, und Will Steger gab ihm ein Hundeteam, also elf von 33, damit er zurückgehen konnte. Wir blieben also fünf Leute mit 22 Hunden. Viel zu wenig. Aber es ging wesentlich besser weiter. Am Ende wechselten wir auf Kanus, hatten dann aber weniger Wasser als erhofft und wir mussten die Kanus tragen.

sueddeutsche.de: Wie kommt Ihre Familie mit diesen Aktionen zurecht?

Boyarsky: Es geht so. Ich bin seit 34 Jahren verheiratet, und war davon wohl nur 16 Jahre mit meiner Frau an einem Ort. Sie war immer dagegen, dass ich diese Dinge mache. Aber ich hatte Träume. Und als ich die Chance bekam, sie zu verwirklichen, konnte ich einfach nicht Nein sagen.

sueddeutsche.de: Sie sind dann dazu übergegangen, andere Vorhaben in der Arktis und Antarktis logistisch zu unterstützen.

Boyarsky: Ja. Ich habe eine Agentur gegründet, die die ganze Infrastruktur für Filmteams, touristische Programme und wissenschaftliche Expeditionen organisiert. Einer der größten Aufträge war die Logistik für den Film "Tegetthoff" des ORF, der die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition von Julius Payer nachzeichnete. Gedreht wurde in Franz-Josef-Land. Eine unglaublich aufwändige Arbeit, dort alles hinzuschaffen. 1998 wurde ich außerdem der Direktor des russischen Museums für die Arktis und Antarktis in St. Petersburg, das größte historische Museum, das sich mit der Erforschung der Arktis befasst.

sueddeutsche.de: Und Sie organisieren Ski-Trips zum Nordpol für Touristen.

Boyarsky: Das auch, ja. Wir bauen jedes Jahr eine Driftstation vor Spitzbergen auf, im Eis, Barneo. Von dort geht es dann in verschiedenen Distanzen los.

sueddeutsche.de: Seit wann sind Sie auf der Yamal?

Boyarsky: Seit 1997.

sueddeutsche.de: Wie ist es für jemanden, der zigtausend Kilometer durch Schnee und Eis gewandert ist, mit einem Schiff voller Touristen zum Pol zu fahren, die nur wenig Ahnung von der Arktis haben?

Boyarsky: Na ja, das ist natürlich was anderes. Aber: Der Weg zum Pol ist in vielerlei Hinsicht limitiert. Es gibt nur kleine Zeitfenster. Es ist sehr kostenintensiv. Und da ist der ganze Hintergrund der Atomeisbrecher. Aus physischen Gründen haben bisher vielleicht 60 Menschen den Nordpol von Beginn der Eiskante an auf Skiern erreicht. Mit den Eisbrechern sind es etwa 10.000. Sie öffnen mehr Menschen den Weg.

sueddeutsche.de: Dadurch wird auch eine der letzten Regionen der Welt für den Tourismus erschlossen. Sie sagten, Sie waren fasziniert von der Schönheit der Polregionen. Tun Sie das Richtige für sie?

Viktor Boyarsky: Ich denke schon. Wir hinterlassen sehr wenige Spuren. Wir bauen ja keine Hotels oder Ähnliches auf Franz-Josef-Land. Wenn wir dort an Land gehen, darf nur mit einer speziellen Genehmigung ein eingegrenzter Bereich betreten werden, damit die empfindliche Vegetation nicht zerstört wird. Es ist eine Frage der Organisation, ob es gut ist oder nicht. Die Region kann sogar profitieren.

sueddeutsche.de: In welcher Hinsicht?

Viktor Boyarsky: Franz-Josef-Land ist jetzt ein Naturreservat und wir müssen für jeden Besucher eine Gebühr bezahlen. Dieses Geld wird verwendet, um die Inseln zu säubern. Dort stehen eine Menge alter Militärbasen. Meiner Meinung nach ist Franz-Josef-Land für Besucher deshalb verboten, weil man es erst mal sauber machen muss.

sueddeutsche.de: Und das wird mit dem Geld gemacht?

Viktor Boyarsky: Hoffentlich. Es sollten auch an bestimmten Orten Strukturen geschaffen werden, dass man nicht mehr auf die Vegetation tritt, die Jahre braucht, um sich wieder zu erholen. Aber ehrlich gesagt: Wir kennen die Plätze, an denen wir landen, seit Jahren. Wir sehen keine nennenswerten Schäden außer dort, wo der Helikopter landet. Deshalb versuchen wir, und die Piloten sind gut darin, immer an exakt der gleichen Stelle zu landen. Ich positioniere mich immer so, dass mich der Pilot sehen kann und die Schnauze des Helikopters direkt vor mir herunter kommt. Es klappt meistens.

sueddeutsche.de: Wenn aber immer mehr Touristen kommen?

Viktor Boyarsky: So viel mehr können es ja nicht werden. Das muss die Reservatverwaltung eben kontrollieren.

sueddeutsche.de: Aber irgendwann wird man es den Orten trotzdem ansehen, die viel besucht sind.

Viktor Boyarsky: Aber nicht sehr, davon bin ich überzeugt. Man kann ja auch nicht jedes Jahr zu den gleichen Plätzen gehen. Das Wetter ist der beste Beschützer Franz-Josef-Lands. Wenn es schlecht ist, kann man nicht landen. Und fährt anderswo hin. So kommt man zwangsläufig auch mal mehrere Jahre an einer Stelle gar nicht vorbei, und alles kann sich erholen.

sueddeutsche.de: Ist es für Sie nicht langweilig, mit dem Eisbrecher zum Pol zu fahren?

Viktor Boyarsky: In die Arktis zu fahren ist niemals langweilig. Wir entdecken selbst immer wieder Neues. Und es macht mir Spaß, diese Region anderen Menschen zu zeigen. Ich freue mich, wenn sich die Leute freuen. Einmal hat sich eine ältere Französin am Pol vor Begeisterung spontan einfach nackt ausgezogen und ist durch den Schnee gesprungen. Und wir haben sie hingebracht.

Ein anderes Mal hat eine russische Sekte den ganzen Eisbrecher gemietet. Am Pol wollten alle schwimmen. Wenn die Leute ins Wasser gehen, sind sie immer angeseilt - und jemand aus unserem Team muss ihnen den Gurt um den Bauch schnallen. Die meisten dieser Leute waren schon etwas älter und ziemlich dick. Und aus irgendeinem Grund wollten sie alle nackt schwimmen. Stellen Sie sich das mal vor. Der arme Kerl, der ihnen den Gurt anlegte, musste nach 40 Schwimmern ausgewechselt werden. Natürlich ist das verrückt. Aber es macht Spaß.

sueddeutsche.de: Es ist schwer vorstellbar, dass die Region davon wirklich profitiert.

Viktor Boyarsky: Sie kann es aber. Wir machen ja nicht nur Quatsch. Das arktische Museum in St. Petersburg, dem ich vorstehe, bekommt zum Beispiel sehr wenig Geld vom Staat. Mit einem Teil des Erlöses aus der Ski-Trip-Station Barneo hebe ich aus meiner Tasche jedes Jahr die Gehälter der Mitarbeiter an und lasse Geld in das Museum fließen. Die Menschen, die dorthin kommen, lernen viel über die Arktis.

Und den Menschen, die zum Pol oder Franz-Josef-Land kommen, zeigen wir direkt, wie wunderschön die Arktis ist. Aber auch, wie verletzlich. Wer hier war, denkt vielleicht anders über den Klimawandel, Umweltverschmutzung, das Jagen von Walen, die Zukunft der Eisbären. Wird zu einem Botschafter der Arktis, wenn Sie es pathetisch ausdrücken wollen. Ich finde schon, dass das Sinn macht. Sehr viel sogar.

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