Wiege der USA:Viel Mühsal, wenig Mythos

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Der Archäologe Bill Kelso hat sich seinen American Dream ausgebuddelt: In Jamestown hat er den Ort gefunden, an dem vor 400 Jahren eine neue Welt entstand - nun gratulieren sogar die Queen und US-Präsident Bush.

Christian Wernicke

Für einen Dickschädel wie Bill Kelso ist dies der rechte Ort. Nicht nur, weil er schon immer wusste, dass alles ,,ganz genau hier'' angefangen hatte. Nein, auf dieser winzigen Flussinsel im Süden Virginias haben sich seit Menschengedenken nur jene durchgebissen, die fest an sich glaubten. Oder an Gott und an ihre Mission. Nur diese hatten Glück, einst wie jetzt.

Bill Kelso hat jahrelang nach einem Fort gegraben: "Manchmal dachte ich, ich sei verrückt." (Foto: Foto: cwe)

Wie haben sie ihn belächelt, ihn hinterrücks verspottet - jedes Mal, wenn sie früher den krummen Kauz drüben am Ufer des James Rivers erblickten. Mancher Passant blieb kurz stehen, sah zu, wie dieser einsame Mann, bewaffnet nur mit Spaten und Plastikeimern, bei Wind und Wetter kleine Löcher in den Lehmboden schaufelte. ,,Manchmal dachte ich selbst, ich sei verrückt'', sagt er, ,,na ja, stur bin ich.''

Kelso streicht sich über den grauen Schnauzer, grinst, kostet die kurze Pause im Gespräch aus. Dann erstrahlt sein Gesicht, von Virginias Sonnenstrahlen eh rötlich gegerbt, noch ein bisschen mehr: ,,Aber das sagt heute keiner mehr. Niemand. Denn es gibt keine Zweifel mehr.''

William M. Kelso hat sich einen Traum erfüllt. Sich seinen American Dream geschaffen, ausgebuddelt mit eigener Hände Arbeit. Als ,,Wiederentdecker der Wiege Amerikas'' rühmen sie ihn nun, und am Freitag, wenn Elisabeth II., die Königin von England, ihm die Hand schütteln und ihn loben wird für seine zähe Graberei, werden die schmalen Augen des 66-Jährigen funkeln vor Stolz. Kaum anders dürfte es eine Woche später sein.

Dann will George W. Bush, der 43. Präsident der längst abtrünnigen Kronkolonien, vorbeischauen an diesem Flecken zwischen Bäumen und Sumpfgras, dem breiten Fluss und der braunen Grube, in der Archäologen täglich neue Funde freilegen. Hier - Kelso sei Dank - genau hier gingen am 13. Mai 1607 exakt 104 Männer an Land, und eine Nation, die dieser Tage arge Sorgen plagen ob ihrer eigenen Abenteuer in fremden Gestaden, wird sich feiern: ,,400 Jahre Jamestown'', Englands erste dauerhafte Siedlung in der Neuen Welt, mithin die Keimzelle der Vereinigten Staaten.

Nur, dieser Triumph war nicht ausgemacht, damals, vor 13 Jahren. Am 4. April 1994 setzte Kelso den ersten Spatenstich: ,,Ich war ein Ein-Mann-Unternehmen.'' Gleich an jenem Tag stieß der breitschultrige, leicht gedrungene Archäologe auf ein paar Keramikscherben aus dem 17. Jahrhundert. Das machte Mut.

Also grub er weiter - schneller, tiefer, immer weiter. An schlechten Tagen schlichen sich Zweifel ein. Dann fiel Kelso ein, wie er hier einst als Student auf den Strom geschaut und ein Professor vom nahen College zu Williamsburg ihm geraten hatte, seine Finger von der Sache zu lassen: ,,Sie kommen 200 Jahre zu spät, Jamestown liegt längst da vorne irgendwo in den Fluten - vergessen Sie's!''

Hunger und Seuchen

In solchen Momenten half ihm nur der Blick auf die Ruine des alten Kirchturms. Vor knapp 400 Jahren hatten die Kolonisten dort zur Ehre des Herrn gemauert, und eine eher beiläufige Spekulation in einem Lehrbuch machte ihn glauben, dass gleich daneben das alte Fort gestanden hatte.

Eben James Fort, dessen Holzpfähle die weißen Neulinge gegen Angriffe der Indianer oder der Spanier schützten. Es sollte noch zwei Jahre dauern, ehe Kelso sich sicher sein konnte. Da entdeckte er dunkle Flecken im Grund, faustgroße Punkte, präzise aneinander gereiht, langgezogen über viele Meter: ,,Das waren die Spuren der Palisaden, die die Siedler hier in den Grund gerammt hatten - 300 mal 300 mal 420 Fuß.''

Das waren so ziemlich die Maße jenes Dreiecks, das er von alten Karten kannte. ,,Ich sage Ihnen nicht, welchen Freudenschrei ich damals ausgestoßen habe'', sagt Kelso und schiebt sich den Hut aus der Stirn, ,,aber es war gewiss nicht 'Heureka'''. Also nicht der Entdecker-Ruf des Archimedes.

Das hätte auch nicht gepasst - an diesem leidigen Ort, den die Neuankömmlinge aus Europa vor 400 Jahren eher als Hölle auf Erden erlebten. Jedenfalls nicht als ,,ein ,,Paradies, bevölkert von einfachen, freundlichen Menschen'' samt Gold und reichen Ernten, wie es die Virginia Company in ihren Werbeschriften - verbrieft mit dem Siegel des englischen Königs James I. - ausgemalt hatte.

Eine Million Artefakte

Sie stießen auf Hunger, Seuchen und Ur-Einwohner, die manchem Eindringling, so der Wortlaut damaliger Zeugnisse, bisweilen ,,das Hirn aus dem Kopf schlugen''. Bereits im September 1607, nach nur vier Monaten im gelobten Land, hatte es die Hälfte aller Weißen dahingerafft. Der einzige nicht-englische Fremdarbeiter auf den ersten drei Schiffen, der deutsche Arzt und Botaniker Johannes Fleischer aus Breslau, starb 1608.

Die meisten Historiker deuten es eher als ein Wunder, dass Jamestown nicht unterging. ,,Ältere Siedler betrachteten ihr Überleben als Zeichen göttlichen Segens'', schreibt etwa der Geschichtsprofessor Warren M. Billings. ,,Das ließ sie glauben, sie und ihre Kinder seien von Gott erwählt, in einem Land ohne Grenzen ihr Glück zu machen.'' Amerikas Mythos vom auserwählten Volk, er erwuchs bereits über den ersten Gräbern.

Bill Kelso und seine inzwischen zehn grabenden Helfer haben die Gebeine längst exhumiert. Nun erinnern dort 21 spröde Metallkreuze an das Schicksal der US-Urväter, dicht neben den neuen Palisaden, die historisch exakt das alte Fort wieder einzäunen.

Mehr als eine Million Artefakte - Pistolen und Münzen, Tonpfeifen und sogar ein silberner Ohrreiniger - lagern inzwischen in den Archiven der ,,Vereinigung zur Bewahrung von Virginias Altertümern'' (APVA), die das Gelände seit mehr als hundert Jahren verwaltet. Mit Hilfe täglich neuer Funde machen sie sich daran, das Bild von Jamestown neu zu zeichnen. Freundlicher soll es ausfallen, weniger düster als bisher.

Populäre Pilgrim Fathers

Hier im Süden der USA fühlen sie sich nämlich bisher arg übergangen. Seit die Yankees den Bürgerkrieg gewannen, so die Klage, würden Virginia und Jamestown ausgeblendet. ,,Der Sieger schreibt die Geschichte, und das waren die Typen im Norden'', sagt Kelso.

Ob in Schulbüchern oder zu Amerikas seligstem Feiertag, beim Truthahnessen zu Thanksgiving - stets dreht sich alles nur um Plymouth und die Pilgrim Fathers, die als verfolgte Andersgläubige ihre Freiheit in Neuengland suchten und ihr Brot mit den Indianern brachen. ,,Das war erst 1620, also 13 Jahre später'', schimpft Kelso, ,,die Leute sollten endlich rechnen lernen: Hier hat unser Land begonnen - mit all seinen Merkmalen.''

Aber genau das ist das Problem. Denn das, was der Archäologe nun historisch korrekt aufzählt an drei Fingern seiner rechten Hand, das erwärmt nicht das Herz. Emotional wertvoll ist am ehesten der Zeigefinger: ,,Die erste repräsentative Regierung Amerikas - gegründet dort drüben in der Kirche.'' In der Tat, die Versammlung gewählter Delegierter am 30. Juli 1619 hob Amerikas Demokratie aus der Taufe, die Spur aus dem hölzernen Fort führt bis zum marmornen Kongress in Washington.

Nur, bereits im August 1607 zog mit den ersten schwarzen Zwangsarbeitern die Sklaverei ins Land. Kelso formuliert es etwas anders und tippt auf seinen Mittelfinger: ,,Die ersten Afrikaner Amerikas gingen hier am Ufer von Bord.'' Und der Daumen des Archäologen steht für: ,,Free Enterprise, das private Unternehmertum - hier gab es das zuerst.''

Jamestown war zunächst nicht Kolonie der Krone, sondern schlichter Handelsposten, gemeint als fernstes Profit-Center von Risikoanlegern aus London. Zwölf Pfund und elf Schilling kostete die Aktie anno 1607, hochgerechnet auf heutige Preise etwa 3000 Dollar. Die Investoren verzweifelten an ihrem Unternehmen.

Es hagelte menschliche wie pekuniäre Verluste, erst gegen 1613 begann der lukrative Anbau von Tabak, Virginias Cash-Crop. Wie wenig romantisch sich diese Saga vom ,,American Dream made in Jamestown'' deuten lässt, hat die Harvard-Historikerin Jill Lepore neulich in der Zeitschrift New Yorker vorgeführt, in einem einzigen langen Satz: ,,Reiche Investoren finanzieren gemeinsam einen Konzern (die Virginia Company), stehlen anderer Leute Land (den Powhatan-Indianern), schneiden riesige Gewinne aus Anbau und Ernte einer süchtig machenden Droge (Tabak) und beuten ihre Arbeitskräfte aus (erst verarmte Briten, dann Afrikaner).''

Blutrünstige Prahlerei

Was Jamestown bis heute fehlt, sind die seligen Gründer-Mythen. Selbst die Legende von Pocahontas, in den neunziger Jahren von Walt Disney verfilmt und in Jamestown per kitschiger Bronzestatue verewigt, verblasst: Dass sie als erste Indianerin einen weißen Tabakzüchter heiratete, dass sie als indigene Prinzessin an Londons Hof empfangen wurde und 1617 in England verstarb - das bleibt verbürgt. Aber das Heldenepos?

Kaum noch ein Historiker glaubt, dass sich Pocahontas tatsächlich schützend auf John Smith, den damaligen Siedler-Chef warf, als ihr Vater Chief Powhatan den Engländer angeblich hinrichten wollte. Auch Ann Berry, die APVA-Direktorin in Jamestown, meint, ,,dass Powhatan wohl John Smith nur in einer Art Adoptionsritual bedeuten wollte, er führe nun ein neues Leben als sein Sohn''.

Von John Smith, dem brutalen Söldner und einzigen Kronzeugen dieser Mär, rückt Jamestown langsam ab. Seine blutrünstige Prahlerei prägt das Image von Jamestown bis heute. ,,Vincere est vivere'', prangt auf dem Sockel seines Denkmals, Siegen ist leben. Nun warnt ein Holzschild, Smiths Zeugnis könne durchaus ,,anders als die Wahrheit'' ausgefallen sein.

Bill Kelso hat all die Jahre im Schatten dieses Denkmals gebuddelt. Er gräbt weiter, nach einer helleren Wahrheit. ,,Nicht mal die Hälfte des Forts haben wir bisher untersucht'', sagt er zum Abschied. Er hat noch viel Arbeit vor sich, weit über den 400. Jahrestag hinaus.

© SZ vom 03.05.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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