Weinbaugebiete:Auf ein Glas hinter den Anden

Lesezeit: 4 min

Chiles Weine zählen zu den besten der Welt. Doch sie werden vor allem im Ausland geschätzt. Der Vino-Tourismus ist kaum entwickelt. Wie schön!

Von Sven Weniger

Sie könnten Rosen züchten oder Erdbeeren anbauen, Äpfel, Oliven, Orangen, alles wäre ein Erfolg. Der Boden gibt das her. Das merkt jeder, der im Valle de Colchagua unterwegs ist und all den Reichtum sieht, den das Tal hervorbringt. Wenn sich ein Landwirt dem Weinbau verschrieben hat, steckt dahinter immer eine lange Geschichte, die in Europa begann und hier in Chile endete. Colchagua ist voll von ihnen. Wie die der Familie Silva, Winzer in fünfter Generation, assimiliert im gewaltigen Schmelztiegel europäischer Einwanderer. Hinter den hohen Mauern an der Straße nach San Fernando liegen die Wirtschaftsgebäude der Viña Casa Silva und das Herrenhaus im Stil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die meisten Weinbauern kamen. Viel Holz, im Innenhof ein Brunnen und Blumentöpfe, dicke Mauern, unter der Erde kühle Gewölbe, Geruch nach Eichenfässern und verschüttetem Rotwein.

Vieles erinnert hier an die Provence oder Rioja - nur eben ohne den touristischen Auftrieb

Mario Silva fährt Gäste gerne im Landrover übers Gelände, zwei Autostunden südlich von Santiago de Chile. Die Hitze brennt auf die Reihen der Weinstöcke. Im Osten zieht das Gelände an, dahinter liegt der schneebedeckte Gebirgszug der Anden, endlos von Nord nach Süd, ein Traumblick. "Wir haben Glück", sagt der charmante Silva, Typ junger Julio Iglesias, und meint das Klima, "acht Monate Sommer, kaum Regen, doch Wasser im Überfluss, Schmelzwasser aus den Bergen, gerade mal fünfzig Kilometer entfernt. Das fließt alles ins Tal, direkt auf unsere Felder". Am Tag dreißig Grad bei voller Sonne, nachts die kalte Brise vom Pazifik gleich um die Ecke. Das Ergebnis sind kräftige, äußerst aromatische Rote mit Noten von schwarzen Früchten und langem, samtweichem Abgang. Silva lädt zur Degustation an die große Bar im Shop, wo sich Tagesbesucher mit Weinen aus der Spitzenlage eindecken können.

Chilenischer Wein hat eine wechselvolle Geschichte. Traditionell war er nur ein Getränk des örtlichen Landadels. Das änderte sich, als die Europäer zur Weltausstellung 1900 in Paris die edlen Tropfen von hinter den Anden entdeckten - die Anbauflächen vervielfachten sich. Die Winzer ernteten nun, was das Zeug hielt, Nachfrage und Klima waren ja auf ihrer Seite. Und schossen übers Ziel hinaus. Die Folge: Preise und Qualität stürzten ab. "Bis Ende der 1990er-Jahre verkauften wir unsere Ernten an Großbodegas im Land, die alles in einen Kessel warfen", Silva schüttelt sich wie nach einem Albtraum, "inzwischen heimsen wir Preise ein." Casa Silva besitzt ein Boutique-Hotel, züchtet Pferde, das Restaurant liegt neben dem eigenen Polofeld. Sieht so aus, als habe die Familie alles richtig gemacht.

Die Entwicklung der Bodega, der ältesten im zweihundert Quadratkilometer großen Anbaugebiet, steht beispielhaft für alle im Colchagua-Tal, das ein amerikanisches Fachmagazin die beste Weinregion der Erde nannte. Etwa dreißig Familienbetriebe liegen in der hügeligen, mediterran anmutenden Region, alles ist einfacher als in Europa. Feldarbeiter ernten erst Kirschen, Blaubeeren, Äpfel, dann Wein und Oliven, ein Zyklus, der sich jährlich wiederholt. Erst seit Kurzem setzen die Winzer zusätzlich auf etwas, was im eigenen Land bis heute nahezu unbekannt ist: Weinreisen. "Die Brasilianer brachten uns darauf", sagt Pamela Ruíz von der Bodega Viu Manent. "Zuerst orderten sie nur den Wein, dann kamen sie selbst, um ihn abzuholen und blieben noch ein paar Tage." Mit Ruíz rattert man in der Pferdekutsche durch Reihen von Cabernet und Pinot Noir. Der Kutscher trägt einen breitkrempigen Hut, ein paar Schimmel stehen malerisch unter Korkeichen, das Weingut Viu Manent setzt auf andalusisches Flair.

Weinanbaugebiete in Chile. SZ-Karte (Foto: SZ-Grafik)

Die Casa Santa Cruz weiter westlich montierte eine Seilbahn auf den Berg, um über Degustation und Führung hinaus um Gäste zu werben. Das Gut Lapostolle setzt auf ein exklusives Restaurant mit Blick auf die Anden, das sich in der Nachmittagssonne sehr pittoresk präsentiert. Die Casa Donoso weiter südlich lässt Besucher besonders nah an ihren Alltag heran. Hier hat Kellermeister Felipe Ortiz zwei Doppelzimmer im Familiensitz eingerichtet. Nur ein paar Schritte vor die Tür, und man steht zwischen uralten, verdrehten Rebstöcken, auf denen frühmorgens dick und schwer der Tau liegt. Noch hat die Sonne die Wolkenschleier vor den Anden nicht zerstreut, schimpfende Bronzekiebitze flattern in Scharen auf, und im Haupthaus wird das Frühstück für die Logiergäste von der Köchin selbst hereingebracht.

Vieles in Chiles Weinregionen erinnert an europäische Anbaugebiete wie die Provence oder La Rioja, doch ohne deren touristischen Auftrieb. Rotbraune Erde, locker hügeliges Buschland, Eukalyptus-Wäldchen, Pinien, weite, blühende Wiesen im Frühsommer, Mohn an Feldrainen. Reiher segeln über die Ebenen, Schafe und Gänse laufen frei herum; naturbelassene, fruchtbare Böden. Um all das hautnah zu erleben, muss man sich aber auf den Gütern direkt einquartieren. Ein nicht immer einfaches Unterfangen, denn Werbung für sich machen sie selten. Anders als Wein-Hotspots im Napa Valley, in Stellenbosch oder Australiens Barossa Valley haben Colchagua und angrenzende Anbaugebiete noch wenig zusätzliche touristische Angebote. Das liege auch daran, sagt Pamela Ruíz von Viu Manent, "dass die Chilenen selbst uns immer noch nicht entdeckt haben. Unser Wein ist weltweit anerkannt, die Region als Reiseziel aber nicht".

Hier wächst eine echte Rarität: Die in Europa ausgestorbene Carménère-Traube

Das Gut Santa Rita im Valle Central überrascht daher mit dem tollen Museo Andino. Das Andenmuseum, privat finanziert, erzählt viele Geschichten: die der Mapuche, der Ureinwohner Zentralchiles; die der Kultur der Gauchos; und nicht zuletzt die spannende Wiederentdeckung der Carménère-Traube, die nach einer Epidemie in Europa als ausgestorben galt, bis man sie 1994 in Chile fand; sie war mit frühen Einwanderern aus Frankreich gekommen. Aber auch in Santa Rita, wie auf den meisten Weingütern, trifft man neben Brasilianern vor allem Amerikaner und hier und da ein paar Europäer, die von Bodega zu Bodega ziehen.

Bis jetzt hat der Fremdenverkehr nur Güter wie Matetic und Emiliana im Valle de Casablanca bei der Hafenstadt Valparaiso erreicht. Zu ihnen schicken die Kreuzfahrtschiffe ihre Ausflugsbusse. Valle Central, Maule, Maipo und das Colchagua-Tal im Hinterland haben Nachholbedarf. Trotz landschaftlicher Schönheit und beneidenswerten Klimas, der zum Greifen nahen Dreitausender der Anden und der Pazifikküste gleich gegenüber, steckt vor allem die Infrastruktur noch in den Kinderschuhen. Ein Informationsbüro gibt es nur in Colchaguas Provinzstädtchen Santa Cruz. Dort bemüht man sich redlich, dem Weinreisenden zu helfen, damit aus der Tour von Gut zu Gut keine Irrfahrt wird. Passende Karten gibt es kaum, ohne Navi sind Selbstfahrer aufgeschmissen.

Wer abends seine Unterkunft erreicht, öffnet daher erst mal dankbar eine der gerade erst erstandenen Flaschen - ob einen süffigen Carménère oder einen feingliedrigen Cabernet, ist dann eigentlich egal.

© SZ vom 02.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: