Wandern:Im Tal der Wölfe und Wallfahrer

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Über schwankende Brücken und schmale Steige durchqueren Wanderer die Wolfsklamm. Der Weg ist noch heute vor der Naturgewalt Wasser nicht sicher.

Karl Stankiewitz

(SZ vom 05.10.2001) - Auf Schloss Tratzberg, einem der besterhaltenen Ansitze Tirols, gibt es neben Sälen der Habsburger (mit 148 Porträts) und der Fugger, den reich bestückten Rüstkammern und dem prachtvollen Arkadenhof ein großes Jagdzimmer mit Kunstwerken in Tierform, die um 1850 der Wilddieb Toni Steger geschnitzt hat. Auch Wölfe zieren die Wände. Sie streiften damals durch die Wildnis über dem 1100 Jahre alten Dorf Stans im heutigen Bezirk Schwaz. Möglich, dass die Wolfsklamm daher ihren Namen hat.

Der ehemalige Sitz der Habsburger und Fugger, Schloss Tratzberg, thront hoch über der Wolfsklamm (Foto: TVB Stans)

Wilde Einsamkeit im modernen Inntal

Wild wie kaum eine andere Berglandschaft beiderseits des hoch industrialisierten Unterinntals ist die Landschaft unter dem 2163 Meter hohen Stanser Joch jedenfalls bis heute geblieben. Wohl nicht zufällig hatte ein Graf Rathold aus dem bayerischen Aibling die "schauderhafte Schlucht des Stanserbaches" um 950 ausgewählt, um dort auf einem hundert Meter hoch ragenden, von Bächen umspülten Felsen eine kärgliche Klause zu bauen und als Eremit "völlig abgeschieden von der Welt den Werken der Frömmigkeit zu leben" (so die Legende).

Aus der Einsiedelei wurde im Laufe der Jahrhunderte die Wallfahrtsstätte St. Georgenberg, der "heilige Berg Tirols". Dort hinauf wollen wir pilgern - nicht auf dem bequemeren und zeitweise überlaufenen Kreuzweg, sondern durch die Wolfsklamm, die Wanderführer den eindrucksvollsten Klammen der Alpen zuordnen.

Balken im Bachbett verkeilt

Die Berg-, Bach- und Waldwildnis beginnt bald hinter der Bude, die Eintrittskarten für maximal fünf Mark verkauft. Bei der ersten Weggabelung halten wir uns rechts und schwenken unter dem Schild "Willkommen" in einen lauschigen Buchenwald. Schwankende Brücken überqueren immer wieder die herabstürzenden Wassermassen. Zerfetzte Holzbalken und verrostete Eisenträger sind wirr im Bachbett verkeilt. Zeugen dafür, dass der Klammsteig immer wieder ausgebessert werden musste, weil ihn die Naturgewalten immer wieder zerstört hatten. Das übrig gebliebene Material konnte nicht immer umweltfreundlich entsorgt werden.

Ein Benediktinerpater vom nahen Kloster Fiecht, dem barocken Ableger der ursprünglich romanischen Kirche auf Georgenberg, hatte die Erschließung der Klamm angeregt. Vier Monate lang ließen der Verkehrsverein Stans und der Alpenverein in der Schlucht, wo von jeher "groß Gfahr und Wasssergüß" die Anwohner schreckten, Felsen sprengen, 324 Stiegen, Holzstege, Galerien und Geländer einbauen. Vor nunmehr hundert Jahren wurde die Wolfsklamm eingeweiht - als "Perle des Unterinntals". Sie erschien der Alpenpost so solide gebaut, dass "selbst Damen und Kinder vollkommen gefahrlos sich dem romantischen Eindruck überlassen können". Ein altes Foto zeigt Frau und Töchterlein eines Bierbrauers mit Stöckelschuhen und Regenschirm.

Zerstörte Idylle

Doch die Romantik war bald vorbei. Im Mai 1912 zerstörte Hochwasser das solide Werk, überflutete die Felder bis zum Stanser Bahnhof, unterspülte die Gleise, so dass man den Bahndamm 1,20 Meter erhöhen musste. Erst 1936 konnte der steile Weg durch die Wolfsklamm wieder hergestellt und sogar auf 800 Meter verlängert werden. Die hautnahe Begegnung mit dem tosenden Wasser lockte die Touristen. In Innsbruck wurden Ausflugskarten für 2,60 Schilling verkauft.

Zehn Jahre später schwemmte ein Wolkenbruch mit Hagelschlag wieder alle Befestigungen hinweg. Stans wurde zwei Meter hoch überflutet, das E-Werk demoliert, die Dorfbrücke fortgerissen. Die schlimmsten Katastrophen folgten in den 50er Jahren, als heftige Gewitter und dann noch eine Lawine viel Wald, Wild und Menschenwerk vernichtete. Und immer wieder ging die Bevölkerung daran, die schöne Wildnis der Wolfsklamm irgendwie zu bändigen und sichtbar zu machen.

Im Ringkampf mit der Natur

"Das Schicksal der schönsten Klamm Nordtirols ist im Kleinen ein Symbol des steten Ringens des Menschen mit der ihm oft feindliche gegenüber stehenden Natur", schreibt Thomas Naupp, Benediktinerpater auf dem St. Georgenberg, in der Stanser Ortschronik. Von einem der letzten Schicksalsschläge der Natur erzählt uns unterwegs ein alter Mann, der regelmäßig die Stiegen herauf keucht zum "heiligen Berg", obwohl er seit dem Krieg nur noch ein Auge und einen Arm hat. Hans Steurer entstammt dem ältesten Hof in Fiecht, von seinem Urgroßvater sind drei Gebetserhörungen protokolliert.

Vor ein paar Jahren hat der alte Mann eine große "Lahn" (Lawine) erlebt, die ein ganzes Rudel Gämsen "ochi g'schmissen" hat, so dass sich die Bauern noch lange verköstigen konnten. Bis zu drei Meter hoch liegt der Schnee bis weit ins Frühjahr hinein. Nach jeder Schmelze müssen alle Wege erneuert werden.

Die Sanierung geschieht in jüngster Zeit vielleicht ein bisschen zu perfekt. Um den alten Kreuzweg auch für Autos herzurichten, wurden wieder Felswände gefräst, und dabei sei - sagt Steurer - auch das beliebte Marienbründl verschwunden.

Der Bach tobt

Der Bach aber, noch tobt und tost er, wird mal zum dünnen Rinnsal, und plötzlich wird aus stillem Wasser wieder ein donnernder Wasserfall. Der höchste hat 35 Meter. Eine Unterhaltung ist hier nicht mehr möglich. Verblockt ist nicht nur der Bach, sondern da und dort auch der Weg. Welche Wasser- und Geröllmassen aus dem Karwendel herunter poltern können, wird einem klar, wenn man an die zwölf Meter hohe Sperrmauer am Ende der Klamm kommt.

Danach wird das Steigen vergleichsweise zum Spaziergang. Eine denkmalgeschützte Holzbrücke mit Schindeldach, deren Steinbogen von 1497 die älteste Brücke Tirols trug, führt über die Schlucht hinweg zum eigentlichen, 898 Meter hohen Georgenberg. Hier beginnt der Alpenpark Karwendel, der auf 730 Quadratmeter Fläche elf Schutzgebiete in sich vereint. Noch einmal werden die Kräfte des Wanderers gefordert durch den steilen Anstieg zu "einem der ältesten und schönsten Wallfahrtsorte der Alpen", wie der literarisch tätige Pater Thomas sagte, als er sein neues Buch mit Andachtsbildern von dieser Wallfahrt im nicht ganz so alten Gasthof nebenan vorstellte.

Kein zweites Kloster Andechs

Es herrscht viel, manchmal allzu viel Betrieb in den urigen Stuben und vor allem im Wirtsgarten mit dem wunderbaren Tiefblick ins Grüne. Ein "Tiroler Andechs" aber möchten die Patres - die meisten kommen aus Deutschland - auf alle Fälle verhindern. Vielmehr nutzen sie die einzigartige Natur für Besinnung und Erbauung im benediktinischen Sinne. "Auf dem Berg heroben ist der Mensch eher bereit, das Evangelium zu hören," rief der frühere Abt Benedikt, der auch heute noch im Rollstuhl gegen Kraftwerksplaner und Straßenbauer für "seinen Georgenberg" kämpft, als deren "Retter" er gefeiert wird.

Jeden Monat zieht eine Nachtwallfahrt mit Fackeln und Bischof herauf, allerdings nicht durch die Wolfsklamm (die früher durch eine Tür verschlossen war). Tausende kommen immer mit. Weil die beiden Kirchen oben nicht genug Platz hatten, wurde eine Kapelle im Freien gebaut. Und vier Mal im Jahr veranstaltet Pater Arno Münz eine Meditationswoche. Gemeinsame Gebete und Entspannungsübungen gehören ebenso dazu wie meditative Bergwanderungen bis hinauf auf die 2223 Meter hohe Rappenspitze und natürlich auch durch die Wolfsklamm; die noch wildere Gamsgartenklamm noch weiter oben ist schon verfallen.

Die 15 Gästebetten im "Bildungshaus" sind schnell ausgebucht. Pater Arno hat Teilnehmer im Alter von 20 bis 76 Jahren aus allen sozialen Schichten, "von der Hausfrau bis zum Universitätsprofessor". Ruhesuchende allemal. Wem auch die frommen Pilger auf die Nerven gehen, der kann sich in einen "stillen Bereich" neben der Kirche zurückziehen - oder eben in die Wildnis, die der Eremit Graf Rathold schon vor mehr als tausend Jahren dort gesucht hatte.

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