Reisebuch:Wo die Welt widerspenstig ist

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Alastair Bonnett stromert durch Niemandsländern und sammelt seltsame Orte: gesichtslose Suburbia-Landschaften, verstrahlte Dörfer bei Tschernobyl oder nicht genutzte Städte in der Mongolei.

Von Stefan Fischer

Es ist für Reiseschriftsteller wieder einfacher geworden, ungewöhnliche, vielleicht sogar unbekannte Orte auf der Erde aufzuspüren. So jedenfalls argumentiert Alastair Bonnett in seinem Buch "Die seltsamsten Orte der Welt". Früher einmal genügte es, nach Italien zu reisen, um den Daheimgebliebenen etwas über ein wahrlich exotisches Land zu berichten. Irgendwann musste man immer weiter, bis tief hinein nach Afrika und auf immer entlegenere Inseln und in immer abgeschiedenere Gebirgstäler, um aus europäischer Perspektive noch Neuland zu betreten. Eines Tages im 20. Jahrhundert war die Welt restlos entdeckt, weil überall schon einmal einer war - und sie war es doch nicht. Weil, so Bonnett, die Menschen just im vergangenen Jahrhundert die Erde so massiv wie nie zuvor umgestaltet haben. Sodass es stets Unbekanntes zu erforschen gibt.

Alastair Bonnett: Die seltsamsten Orte der Welt. Geheime Städte, verlorene Räume, wilde Plätze, vergessene Inseln. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C. H. Beck, München 2015. 296 Seiten, 19,95 Euro. (Foto: verlag)

Und die seltsamsten Orte sind nicht wie früher die entlegensten, von einer gänzlich fremden Kultur geprägten. Sondern das Merkwürdige kann inzwischen wieder vor der eigenen Haustür anzutreffen sein. Bonnett nennt zum Beispiel die Suburbia-Landschaften rund um die Großstädte, für die im Englischen der Begriff Blandscapes geprägt wurde: austauschbare, gesichtslose Landstriche. Dem entgegen setzt Alastair Bonnett, an der Universität in Newcastle Professor für Sozialgeografie, "widerspenstige, ungebärdige Orte, die sich Erwartungen verweigern". Und wenn es die nicht gibt, dann würden sich die Menschen sie eben erschaffen. Orte lassen sich nicht immer ausschließlich geografisch bemessen; sie sind oftmals auch Ideen. Und manchmal müsse man sich einen Ort auch einfach wieder zurückerobern, vor allem im städtischen Raum - Bonnett hat klare Sympathien für zivilen Ungehorsam.

Er unterteilt die seltsamen Orte in acht Kategorien - und beginnt mit den verlorenen gegangenen. Inseln, die es nie gab oder die verschwunden sind. Leningrad, ohne das viele Milieus im heutigen Sankt Petersburg nicht denkbar sind. Und die "Time Landscape" in New York, sie ist eine Gedenkstätte für eine verschwundene Landschaft: Der Künstler Alan Sonfist hat an der Ecke LaGuardia Place/West Houston Street in den 1970ern auf tausend Quadratmetern die Natur in einen Zustand wie vor der Erbauung der Stadt zurückversetzt.

Durch Niemandsländer stromert Bonnett und durch Geisterstädte; an alle Orte folgt man ihm gerne bei der Lektüre, ohne einige davon in der Realität jemals aufsuchen zu wollen. Das gilt für Müllinseln, das asbestverseuchte Wittenoom oder das verstrahlte Prypjat. Extrem seltsam ist Kangbashi, eine Stadt in der Inneren Mongolei, am Reißbrett entworfen und gebaut für 300 000 Menschen, bewohnt aber nur von 30 000.

Die seltsamsten Orte sind also die, die keine Funktion mehr haben, so sie überhaupt je eine hatten. Dagegen nehmen sich historische Kuriositäten wie Baarle mit den Gemeinden Nassau und Hertog geradezu heimelig aus. Die Stadt gehört häuserblockweise mal zu Belgien, dann wieder zu den Niederlanden, was zu einem speziellen Alltag führt. Und einen Nischen-Tourismus nach sich zieht. Aber den hat sogar Prypjat, einst gebaut für die Arbeiter des Kernkraftwerks Tschernobyl.

© SZ vom 08.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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