Reisebuch:Voll in die Fresse

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Die Provinz hat einen schlechten Ruf. Andrea Diener folgt ihm mit Leidenschaft - und findet dabei das Charaktergesicht des Landes, ganz gleich, wohin sie reist. In der Mongolei ebenso wie in Burundi, im Westharz oder in der Schweiz.

Von Stefan Fischer

Wo eigentlich endet Urbanität und beginnt Provinz? Die Journalistin Andrea Diener, Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat sich eine, wie es scheint, taugliche Definition zurechtgelegt: Provinz sei dort, wo Landlust aufhöre, "wo man sich das viele Grün nicht mehr mit kreativ bepflanzten Terrakottatöpfen heranholen muss, sondern langsam dazu übergeht, es sich mit Großgerät vom Leibe zu halten". Insofern sei Provinz dort, wo der Einflussbereich großer Metropolen nicht mehr hinreiche - das leuchtet ein, damit wird es aber zugleich kompliziert: Diener hat, und zwar vollkommen zu Recht, etwa der zweitgrößten slowenischen Stadt, Maribor, ein Kapitel in ihrem gut beobachteten, amüsanten Buch "Ab vom Schuss" gewidmet. "Reisen in die internationale Provinz" (so der Untertitel), führt Diener aufs schönste vor, führen eben nicht zwangsläufig in die ländliche Einsamkeit. Sondern mitunter auch mitten hinein in eine bevölkerungsreiche Geist- und Kulturlosigkeit.

So sehr man sich jedoch über die Ödnis der Provinz lustig machen kann: Jedes Land habe eben "seine Fresse", wie Diener das nonchalant nennt, und diese Visage kriege man nur in der Provinz gezeigt, "in den Kleinstädten, die niemand für Nostalgietourismus auf Puppenstubigkeit getrimmt hat, in denen einfach nur Leute ungestört vor sich hin leben". Andrea Diener bereist diese Art von Provinz mit Leidenschaft, was nicht bedeutet, dass sie sie vor Kritik oder Spott in Schutz nimmt: Im Gegenteil, auch die Autorin macht keinen Hehl aus ihrem Gelangweilt- oder Genervtsein, das sie dort immer wieder wechselweise befällt. Aber sie sucht aufrichtig neugierig nach dem Charaktergesicht eines Landes, nach dem, was sie aus ihrem großstädtischen Leben nicht kennt. Sie findet derlei in der Mongolei und in Burundi ebenso wie im Westharz oder in der Schweiz. Provinz ist weniger eine Angelegenheit der räumlichen als der mentalen Distanz. Die lässt sich manchmal nicht überwinden, und Andrea Diener nimmt förmlich Reißaus. Dann wieder aber ist sie beglückt darüber, irgendwo zu sein, wo sie - schlichtweg aus Unwissenheit - eigentlich nie hinwollte.

Andrea Diener : Ab vom Schuss. Reisen in die internationale Provinz. Rowohlt Polaris Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017. 206 Seiten, 14,99 Euro.

© SZ vom 29.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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