Reisebuch:Traumstationen

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Aude de Tocqueville reist in ihrem "Atlas der verlorenen Städte" in die Vergangenheit. Dabei entdeckt sie Städte wie die Tempelanlage in Angkor, die durch den Ansturm der Touristen ein zweites Mal unterzugehen droht.

Von Stefan Fischer

Das Schöne an solchen Orten, schreibt Aude de Tocqueville im Vorwort zu ihrem "Atlas der verlorenen Städte", sei, dass man sie bedenkenlos idealisieren könne: eine Stadt, die nicht mehr existiert oder nicht mehr bewohnt wird, lasse sich in der Fantasie zu einer Stadt gestalten, von der man immer geträumt habe. Aude de Tocqueville führt das am Beispiel von Fatehpur Sikri in Indien vor, wo sich die große Geschichte mit den eigenen umherschweifenden Gedanken vermische. Verlorene Städte "sind Poesie, Traum, Kulisse unserer Leidenschaft, sie sind wie eine Metapher für unser Leben". Sie bezieht sich ausdrücklich auf "Die unsichtbaren Städte" Italo Calvinos.

Nicht ganz so pathetisch, aber ebenfalls spielerisch geht Karin Doering-Froger mit den zivilisatorischen Hinterlassenschaften in ihren Grafiken um: Aus den noch existenten Ruinen und dem, was sie einmal waren, gestaltet sie Karten, in denen die jeweilige verlassene Stadt alles im Umland dominiert - ein charmantes Konzept. In den Texten dazu stromert Aude de Tocqueville durch die realen Überreste und durch die literarischen Manifestationen der Städte. Sie zitiert also Flauberts "Salammbô", wenn es um Karthago geht, und Camus' "Hochzeit des Lichts" in ihrem Text über Djémila.

Einige der Städte sind mit den Reichen, in deren Blütezeit sie sich entwickelt haben, untergegangen - Leptis Magna etwa in Nordafrika, Hattuša in der heutigen Türkei oder die Maya-Stadt Tikal. Andere sind einer Katastrophe zum Opfer gefallen: Ağdam, Pompeji, Hiroshima, Prypjat. Und wieder andere haben nie wirklich existiert, weil sie nicht historisch gewachsen, sondern zentral geplant worden sind und die Bauherren sich verspekuliert haben: Seseña in Zentralspanien ist so ein Beispiel oder Varosha auf Zypern. In der angolanischen Cidade do Kilamba besteht immerhin noch Hoffnung, dass irgendwann Leben einzieht in diese komplett von einem chinesischen Trust hochgezogene, nun ja: Stadt.

Kurios ist die Geschichte von Centralia in Pennsylvania: In den 1960ern haben Gemeindearbeiter versehentlich die Mülldeponie entzündet. Das Feuer ist bis in die Stollen der Kohlemine vorgedrungen - und brennt immer noch. Es hat den Boden aufgerissen und setzt aus den Erdspalten so große Mengen Kohlenmonoxid frei, dass Centralia dauerhaft nicht mehr bewohnbar ist.

Aude de Tocqueville versucht in allen Kapiteln, ein bisschen etwas vom Leben in diesen Städten einzufangen, ehe sie aufgegeben worden sind. Nicht im Sinne einer historisch korrekten Geschichtsschreibung, sondern mit literarischer Freiheit.

Aude de Tocqueville: Atlas der verlorenen Städte. Aus dem Französischen von Regine Schmidt und Sabine Grebing. Frederking & Thaler Verlag, München 2015. 144 Seiten, 29,99 Euro.

© SZ vom 09.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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