Reisebuch:Rational chaotisch

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Mit den handgezeichneten Karten des detailversessenen Kartografen Stephen Walters kann man sich beherzt in London verlaufen.

Von Stefan Fischer

London ist eine Welt für sich. Insofern ist es nur konsequent, der Stadt einen eigenen Atlas zu widmen. Stephen Walter, der Kartograf dieses eigenwilligen Kartenkonvoluts, bläht seine Heimatstadt in "The Island: London Mapped" zwar nicht zu einem Planeten auf, er inszeniert sie jedoch als Insel. Schon dadurch wird augenfällig, wie sehr London sich selbst genug ist: Hinter den Rändern der Stadt kommt bei ihm erst einmal nichts. Jedenfalls nichts, was auf einer Karte zu verzeichnen wert wäre. Peter Barber, in der British Library verantwortlich für die Kartensammlung, lobt diese Entscheidung Walters in seinem klugen Vorwort, weil dadurch zwei Wesensmerkmale von London herausgestrichen würden: zum einen die Selbstbezogenheit der Metropole und zum anderen der Umstand, dass sie mit dem Rest des Landes wenig gemein habe.

Ein Stück Themse mit der Tate Gallery, Westminster, ganz im Norden die Abbey Road - und mittendrin der Vermerk: Vorsicht, Touristen! (Foto: Stephen Walter, Prestel Verlag)

Damit ist man zugleich mitten drin in Stephen Walters London-Kosmos. Denn Kartografie kann weitaus mehr sein als nur die Abbildung von geografischen Größenverhältnissen. Bei Walter fließen soziale und wirtschaftliche, sogar persönliche Faktoren in seine Karten ein. Gute Karten, so Peter Barber, würden das Chaos, das in der Welt herrsche, verständlich machen durch die Auswahl und Hierarchisierung von Informationen.

Nun sehen Stephen Walters Karten erst einmal sehr chaotisch aus. Wimmelbilder sind im Vergleich zu diesen Grafiken so übersichtlich wie die Speisekarten an einer Würstlbude: "London Mapped" zeigt Seite für Seite ein Gewirr aus gezeichneten Häusern, Bäumen, Straßen, Bahnlinien, Symbolen und Buchstaben. Walter hat die Karten handgezeichnet, er spielt nichts desto trotz mit der Pixel-Ästhetik digitaler Darstellungen. Die ersten knapp 80 Seiten versammeln klassisch rechteckige, doppelseitige Karten mit Vermerken an den Rändern, wo man hinblättern muss, um die Anschlusskarte zu finden. Die zweite Hälfte des Buches behandelt die einzelnen Viertel wiederum so, als wären sie eigenständige Siedlungen; mit Grenzen, hinter denen wiederum erst einmal nichts kommt.

Je länger man seinen Blick auf eine Karte heftet, desto mehr Details liest man heraus, über einzelne Gebäude, über die Stadtgeschichte, über Herkunft oder Präferenzen der Bewohner. Wichtiges steht gleichberechtigt neben Anekdotischem und Skurrilem. Das arme und das reiche Ende von Straßen ist vermerkt; Flaggen zeigen an, wo besonders viele Sudanesen, Iraner oder Kolumbianer leben - und wo "many english flags" gehisst seien, in welchen Vierteln die Engländer also besonders patriotisch sind. Den Karten ist ein subtiler Humor eingeschrieben. Und doch kann man Walters Werk nicht als Spielerei abtun. Obschon es mitunter radikal subjektiv ist, lassen sich immens viele Informationen über London beziehungsweise über einzelne Straßenzüge herauslesen. Die "Rationalisierung der Realität" nennt Peter Barber diese kartografische Leistung. Weil eben nicht Chaos und Willkür vorherrschen. Sondern Charakteristisches begreifbar wird, ohne jeden Anspruch an die Komplexität dieser Welt aufzugeben.

Stephen Walter : The Island: London Mapped. Prestel Verlag, München, London, New York 2015. 144 Seiten, 24,95 Euro.

© SZ vom 03.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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