Reisebuch:Die letzte Bastion

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Michał Książek wandert am Bug entlang, die polnische Ostgrenze, die bis heute in vielerlei Hinsicht eine Trennlinie ist. Hier wechselt die Schrift vom Lateinischen ins Kyrillische, der Glaube vom katholischen zum orthodoxen. Sogar die Igel sehen anders aus.

Von Stefan Fischer

Sich in einem Auto mitnehmen zu lassen, ist für Michał Książek ein Graus. Nicht nur, weil er nun einmal wandert und daher jede Strecke, die er nicht zu Fuß zurücklegt, einem Verrat an seinem Projekt gleichkommt. Sondern auch, weil er an dumme Menschen gerät: Besserwisser, Antisemiten. "Du verbiegst dich, wechselst das Thema, lügst und betrügst", schreibt Książek über sich selbst - um nicht in die Nacht oder den Schneeregen hinauszumüssen.

Einmal aber hat der Autor Glück: Ein Mann nimmt ihn mit, der in den Siebzigerjahren am Bau der Straße mitgewirkt hat, über die sie gerade fahren - und die Michał Książek sonst entlanggeht. "Straße 816" heißt auch sein Buch über diese Reise, sie führt am Fluss Bug entlang der polnischen Ostgrenze. Über diesen Fahrer schreibt Książek: "Von der Straße sprach er liebevoll, zärtlich, als wäre sie zu klein für die Verpflichtungen, die eine Woiwodschaftsstraße hat. Sie war ja selbst für einen Mittelstreifen zu schmal." Die 816 ist eigentlich eine alte Straße für Pferdefuhrwerke, seit bald fünf Jahrzehnten ist sie immerhin geteert. Sie ist die östlichste Möglichkeit, in Polen von Nord nach Süd zu kommen oder umgekehrt. Ein paar Straßen führen hier auch in den Westen. Die vierte Himmelsrichtung, den Osten, gibt es nicht. Nicht im Verkehrsnetz jedenfalls. Jenseits des Bugs sind die Ukraine und Weißrussland, früher trennte der Bug das Königreich Polen vom Großherzogtum Litauen.

Ein Streifen Land, der den Westen vom Osten trennt. Das gilt selbst für Tiere: Diesseits des Bugs leben die westlichen Igel mit dunklen Bauchhaaren, jenseits ihre östlichen Verwandten mit hellen Bauchhaaren. Die Schrift wechselt von lateinischen Buchstaben zu kyrillischen, der Glaube vom katholischen zum orthodoxen. Vor dem Zweiten Weltkrieg haben sich diese beiden Sphären durchdrungen, außerdem lebten hier als dritte kulturelle Gemeinschaft viele Juden. Sie wurden umgebracht von den Nationalsozialisten, das deutsche Vernichtungslager Sobibór lag am Bug. Auch die Konzentrationslager Treblinka und Bełżec waren in der Region. Die christlichen Glaubensrichtungen sind heute recht scharf getrennt, es kam zu einem Bevölkerungsaustausch. Viele orthodoxe Kirchen auf polnischer Seite sind zerstört worden; die noch stehen, haben meist keine Funktion mehr.

Michał Książek durchstreift diesen Grenzstreifen (er wechselt nie über die Grenze hinüber), der dem Rest Polens als exotisch erscheint und mitsamt seinen Bewohnern bereits "dem Osten" zugerechnet wird. Für die Menschen interessiert sich Książek übrigens wenig. Er taucht lieber in die Natur ein - Książek ist auch ein Vogelkundler - und in die Geschichte. Er sucht in den Orten, die von drei Kulturen geprägt worden sind, von denen aber nur eine überlebt hat, nach Resten der beiden anderen. In den alten Holzhäusern und ihren Bewohnern (ganz entkommt er den Menschen nicht) entdeckt er mitunter noch etwas von der früheren Prägung. Er stößt aber auch auf viele verlassene Höfe und Dörfer, auf Orte, denen eine Mitte fehlt. Weil sie keine Vergangenheit mehr haben, fehlt ihnen auch die Gegenwart, so ist Michał Książeks Eindruck.

Er, der fremde Wanderer, erntet häufig misstrauische Blicke. Die Bewohner sind gern unter sich, sie vermissen offenbar nichts. Wer Ruhe sucht und Langsamkeit, wird am Bug fündig.

Michał Książek : Straße 816. Eine Wanderung in Polen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 272 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 24.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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