Reisebuch:Der Bilderjäger

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Zwischen Postkartenmotiv und Bergbauernarbeit: Rudolf Grass hat die einstige Lebenswelt des Unterengadins festgehalten. Im Gegensatz zu seinen berühmteren Kollegen ging es ihm vor allem um den Alltag im Gebirge.

Von Hans Gasser

Künstler hätte sich Rudolf Grass nie genannt. Warum denn auch? Als Sohn von Selbstversorgungsbauern 1906 im Engadiner Bergdorf Zernez geboren, war es ohnehin schon fast ein Wunder, dass er acht Jahre lang die Schule besuchen und dann sogar eine Ausbildung zum Fotografen im mondänen St. Moritz machen konnte. Die meisten seiner Klassenkameraden wurden Bauern, Holzfäller oder Arbeiter im Sägewerk.

Grass hingegen eröffnete Anfang der 1930er-Jahre ein "Fotolädeli" in seinem Dorf, maßgeblich unterstützt von seiner Tante Annina, die selbst in ihrer Freizeit gerne fotografierte. Dorffotograf zu sein und auch noch einigermaßen davon leben zu können, das bedeutete damals nicht nur Porträts von ernst dreinschauenden Hochzeitsgesellschaften oder Schulklassen anzufertigen. Der immer stärker aufkommende Tourismus verlangte nach Postkarten, die in einem Bild zusammenfassten, was die Reisenden erwartet: ein Dorf mit alten Engadiner Steinhäusern, umgeben von Blumenwiesen und im Hintergrund überragt von den schneebedeckten Dreitausendern Graubündens. Im besten Fall waren auch noch ein paar Einheimische neben Ochsenkarren oder ein paar putzige Bergbauernkinder darauf zu sehen.

Das war damals die Bilderwährung des Gebirgstourismus, und es ist sie auch heute noch, wenn man an Postkarten und Werbebilder etwa aus Nepal, Peru oder Albanien denkt. Aber Grass, den im Dorf alle nur Ruedi nannten, beschränkte sich bei Weitem nicht nur auf diese relativ einträglichen Motive. Dazu hatte er zu viele andere Interessen. Er war passionierter Jäger, Bergsteiger und Skifahrer, kaum einer kannte das Gebiet des Schweizerischen Nationalparks (gegründet 1914) so gut wie er. Zudem sang er in zwei verschiedenen Chören und hielt die Lebenswelt der Engadiner Bergbevölkerung zwischen den 1920er- und 1960er-Jahren fest: Waschfrauen am Dorfbrunnen, Holzfäller, Metzger, Kesselflicker und immer wieder Jäger, die stolz Trophäen und erlegtes Wild präsentieren.

Oft genug ließ er sich auch selbst mit seiner Beute fotografieren oder postierte seine Kinder vor einem Dutzend an einer Leine aufgehängten Fuchsfellen. Die Felle brachten Grass bedeutend mehr Geld ein als all seine Fotografien während eines ganzen Jahres: Ein italienischer Pelzhändler bezahlte bis zu 100 Franken pro Stück.

Es ist das Verdienst der Autorin und Fotografie-Historikerin Lucia Flachs Nóbrega, eine vielfältige Auswahl dieser Zeitdokumente eines sonst wohl vergessenen Fotografen und Bündner Originals in einem schönen, dreisprachigen (Deutsch, Italienisch, Rätoromanisch) Bildband zu präsentieren. Man erfährt darin auch, dass die Fotografie im Engadin in der Zwischenkriegszeit und danach so etwas wie einen Boom erfuhr. Berühmte Kunstfotografen wie Albert Steiner, Grass' Lehrmeister Andreas Pedrett und auch die Brüder Jon und Domenic Feuerstein wirkten vor allem im wohlhabenden und touristisch viel bekannteren Oberengadin rund um St. Moritz. Da gab es ein Publikum auch für Kunstfotografien. Bis dorthin drang Grass nie vor, er blieb im ursprünglicheren und weniger besuchten Unterengadin und fotografierte lieber dessen Bergwelt, besonders gern seinen pyramidenförmigen Hausberg Piz Linard. Als Zubrot führte er Touristen im Auftrag eines Hotels zu den schönsten Plätzen im Nationalpark.

Nur selten versuchte er sich in der Bildsprache seiner bekannten Kollegen, indem er etwa geometrische Formen eines von Raureif bedeckten Astes herausstellte. Mehr interessierten ihn außergewöhnliche Ereignisse wie etwa der Bau einer riesigen Staumauer in Livigno oder die Katastrophenlawinen im Winter 1951, deren Folgen er wie ein Reporter dokumentierte und an regionale Zeitungen verkaufte. Bei den Olympischen Winterspielen 1948 in St. Moritz hat er fast jeden Tag fotografiert, leider sind die Bilder nicht erhalten. Aber auch so bleibt sein Werk eindrücklich und von zeithistorischer Bedeutung.

Lucia Flachs Nóbrega: Rudolf Grass Zernez 1906-1982, Dorffotograf. Limmat Verlag, Zürich 2015. 176 Seiten, 115 Fotografien Duplex, 58 Euro.

© SZ vom 18.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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