Reise durch Japan:Schrein und Sein

Lesezeit: 7 min

Wollt ihr Tradition oder Moderne? Was deutsche Reisengruppen auf ihren Zackzack-Trips durch Japan wirklich suchen.

Harald Hordych

Warum nicht anfangen mit einem Pachinko? Nichts passt nämlich weniger zu einer Reise, die den Titel "Best of Japan" trägt als ein Pachinko. Ein Pachinko ist ungefähr soviel klassisches, auf Stille und Sammlung konzentriertes Zen-Buddhismus-Japan wie ein Supertanker ein Origami-Segelboot.

Nein, ein Pachinko ist der Vorhof der Hölle, wenn man lärmempfindlich ist. Die Menschen hocken vor einem kleinen Spielautomaten und starren auf hunderte silberne Kugeln, die in dem Gerät hin- und herpurzeln. Rockmusik donnert wie ein Düsenflugzeug in den blinkenden Raum, ein Ansager plärrt auf die Spieler nieder, jeder Automat fiept und gluckst und krächzt. Dazu suchen sich die Kugeln ratternd ihren Weg, ohne dass ein Sinn darin erkennbar wäre.

Aber wieso starren die Japaner so konzentriert auf dieses Durcheinander? Pachinko ist ein Glücksspiel, das der Spieler wie einen Flipper beeinflussen kann. Allerdings auf einer Fläche, die fünfmal kleiner ist und auf der sich 50 mal so viele Kugeln drängeln.

Je länger man dem Lärm standhält und den Spielern zuschaut, desto mehr erscheint einem ein Pachinko als ein Sinnbild für das moderne Japan. In diesem Land ist alles kleiner und alles voller, und bunter ist es in der Regel auch. Die langsame große Kugel in einem unserer bräsigen Flipperautomaten würde einen Japaner binnen Sekunden in den Schlaf wiegen. In jeder Abteilung der großen Kaufhäuser, in jeder Garküche, in der U-Bahn - überall drängeln sich die Menschen wie die Pachinko-Kugeln. Und nichts bringt das Spiel zum Stillstand.

Helmut Schwarz, 44, aus Germering bei München hat auf dieser Reise keinen Fuß in ein Pachinko gesetzt. Wie bei seinen aus allen Teilen Deutschlands stammenden Mitreisenden galt sein oberstes Interesse dem Japan der Kulturschätze. Eben darum geht es auf dieser Reise: Sie führt den Touristen von shintoistischen Schreinen zu buddhistischen Tempeln und von der wohl schönsten erhaltenen Burg Japans, der Burg des weißen Reihers in Himeji weiter zum größten Holzgebäude der Welt in Nara. Sie lenkt seinen Blick auf den heiligen Berg Fuji und sie weist ihm den Weg übers Meer zum herrlich roten Tor vor der Insel Miyajima.

Wie Deutschland zackzack

"Best of Japan" ist eine Weltkulturerbe-Tour-de-Force in elf Tagen.Und so etwas wie der fällige Gegenbesuch der Deutschen bei ihren treuesten Besuchern. Vor Reisebüros in Kyoto oder Tokio stapeln sich die Prospekte mit Reisen in europäische Länder: In einem wird für deutlich weniger als 1000 Euro (ohne Flug) Germany in acht Tagen angepriesen. Deutschland zackzack: St. Goarshausen am Rhein, Würzburg, Rothenburg ob der Tauber, Dinkelsbühl, Heidelberg, München und Neuschwanstein. Die Japaner können das. Aber die gemütlichen Deutschen? Und wie ist es wohl, wenn Menschen aus dem zweitperfektionistischen Land dem perfektionistischsten Volk einen Besuch abstatten?

Die Menschen, die "Best of Japan" buchen, haben nicht unbedingt auf den Moment hingelebt, da sie bebend vor Glück japanischen Boden betreten durften. Es sind Fernreiseprofis, die den Archipel ausgewählt haben, weil sie schon fast überall sonst gewesen sind. Eine Besonderheit dieser geführten Reise hat sich für die verschiedenen Veranstalter bezahlt gemacht: Sie hat keine Mindestteilnehmerzahl. So manche Bildungsreise scheitert ja mitunter erst kurz vor dem Start daran, dass zu wenig Leute mitfahren wollen.

Der 66-jährige Eisenwarenkaufhausbetreiber aus Linz wollte eigentlich nach Südchina. Der Versicherungsexperte aus Germering hatte Guatemala ins Auge gefasst. Drei Damen aus Weeze am Niederrhein waren erst auf Brasilien-Kurs, ehe sie auf einen Japan-Prospekt stießen.

Kein Traumziel dieses Japan also, aber ein magischer Ort für Neugierige, weil dieses westlichste aller östlichen Länder uns einerseits vertraut scheint und andererseits immer noch fremd und rätselhaft. "Wie ist es möglich?", fragt der leidenschaftliche Reisende Schwarz, stellvertretend für eine Gruppe, welche die Telekommitarbeiterin aus Zwickau und das junge Unternehmensberaterpärchen aus Frankfurt vereint, "wie ist es möglich, dass ein Land, dessen Städte permanent von Erdbeben bedroht sind, das an vielen Orten auf Vulkanausbrüche gefasst sein muss, ein Land, das sich durch fürchterlich schwülheiße Sommer quält und dem kaum nutzbarer Boden für Landwirtschaft zur Verfügung steht, wie ist es möglich, dass dieses Land eines der reichsten der Welt werden konnte?"

Das Verlangen, ganz viel von Japan ganz schnell kennenzulernen, wird mit einer einzigen der vier Hauptinseln befriedigt, nämlich Honshu, auf der sich die gesamte Herrschaftsgeschichte dieses Landes abgespielt hat, hier lagen alle Hauptstädte von Nara über Kyoto bis Tokio, das 1603, damals noch unter dem Namen Edo, zur Hauptstadt des Reiches wurde. Auch der Naturliebhaber kann erahnen, was ihn wohl jenseits der Mitte auf der nördlichen der vier großen Inseln, der viele Monate schneebedeckten Hokkaido und der südlichen Kyushu mit tropischen Klima erwartet: Selbst im November jagt die Gruppe zum Schneegestöber auf 1300 Metern und dann hinunter an den Pazifik, wo bei 20 Grad die letzten Surfer dem Sommer Lebewohl sagen.

Ineinandergeschobene Häuser

Die Reise beginnt in der Moderne und führt zurück in die Vergangenheit. Was wohl die richtige Reisedramaturgie ist, zumindest für die Damen aus Weeze, denn für sie kommt so das Beste am Schluss: "Das ist das Japan, wie man es aus den Filmen kennt", sagt eine von ihnen beglückt.

Das in wunderschönen Rot- und Gelbtönen leuchtende Zierahorn-Japan der Parks, die wie Tuschezeichnungen in die Hänge komponiert sind. In Kyotos Gassen mit den einstöckigen Holzhäusern, zerbrechlich und schlicht, nur mit einer Tür und einem Fenster ausgestattet, wähnen sie sich angekommen in jenem typischen Japan, das sie auf dieser Reise in der Realität wiederfinden wollten.Tatsächlich gibt es hier immer noch Geisha-Schulen und überall winzige Bars mit roten Laternen an der Tür, aber Kyoto ist auch eine blinkende Millionenstadt aus Glas und Beton.

Neben 1600 Tempeln und Schreinen hat die alte Kaiserresidenz einen neuen Zentralbahnhof, in den nicht nur ein riesiger Bahnhof samt Einkaufspassagen und Restaurants, sondern eben auch ein gewaltiges Luxushotel und ein elfstöckiges Kaufhaus mühelos hineinpassen.

Erst recht in Tokio lässt sich die rasante Entwicklung eines Landes unter beengten Bedingungen beobachten. In dem Großraum, der übergangslos in die zweitgrößte Stadt Yokohama übergeht, leben mittlerweile mindestens 30 Millionen Menschen. Es scheint, als seien die Häuser dieser Stadt ineinandergeschoben worden, um immer neue Fläche zu gewinnen. Im Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen durchbraust die Gruppe eine nie endende Stadt. Mindestens 80 Prozent der Fläche der Vulkaninseln sind nicht nutzbar. Wo keine dicht bebaute Ebene ist, da erheben sich allerorten steile Vulkankegel und Gebirgszüge.

Raummangel und Menschenfülle - angesichts dieser Formel bestaunt die Gruppe bald das Wunder der japanischen Sauberkeit. Konsterniert nehmen die 16 Deutschen zur Kenntnis, dass es diesem vollgestopften Land gelingt, täglich viele Millionen Menschen durch seine Straßen zu pressen, ohne dabei schmutzig zu werden. Wenn Japan wie eine Maschine funktioniert, dann sieht diese Maschine allerdings aus, als ob sie eigentlich nicht funktionieren könnte: Kein einheitlicher Baustil ordnet das Durcheinander der Formen und Größen. Dieser Gegensatz zwischen dem Chaos asiatischer Städte mit schreienden Neonreklamen und der Sauberkeit und Ordnung fasziniert die Deutschen.

Im Garten am Goldenen Pavillon sind selbst im Herbst die Wege makellos laubfrei. "Da können wir uns eine Scheibe von abschneiden!", stellt ein Mann aus Würzburg treuherzig fest.

Beim japanischen Bad stoßen sie allerdings an die Grenzen ihrer Begeisterungsfähigkeit für allumfassende Reinlichkeit. Ein Bauleiter aus Dresden kann nicht fassen, dass die Japaner sich nicht nur vor dem Niederlassen in der Gemeinschaftsbadewanne wie besessen einseifen und kernreinigen, nein, auch danach hätten sie überhaupt nicht mehr damit aufgehört! Der Ernst, den die Japaner im Bad zeigen, scheint geradezu religiöse Züge zuhaben. Und damit kommt man der Wahrheit tatsächlich recht nah, zumindest gibt man der jungen Reiseleiterin Eva Winde damit das richtige Stichwort.

Der Shintoismus, eine Naturreligion, die sich lange vor dem aus China im 6. Jahrhundert importierten Buddhismus entwickelt hatte, wird nämlich von zwei Säulen getragen: Fruchtbarkeit und Reinlichkeit. An jedem der Schreine, die sich aus Sicht des Touristen praktischerweise in der Regel bei herausragenden Naturschönheiten befinden, stehen Reinigungsbecken. Das Prinzip der Reinheit findet sich auch im Buddhismus wieder, der in Japan eine Art Joint Venture mit dem Shintoimus eingegangen ist: Das Dieseits ist Sache der shintoistischen Priester, um das Jenseits kümmern sich die Buddhisten.

Solche Fakten und vieles andere verfolgt die Gruppe mit beispielhafter Aufmerksamkeit. Dieses Japan für Einsteiger hat Leute angezogen, die den Reisemarathon aus Sprintspaziergängen und Drucklustwandeln (um 16.35 Uhr ist Treffpunkt am Bus!) sowie minutiös geplanten Bus- und Zugtransfers als Erholung für den Kopf verstehen. "Das ist kein Urlaub, das ist eine Reise", erkärt die Buchhändlerin aus Nürnberg. Weltsehnsucht hat Ernst Bloch das Fernweh genannt. ,"Fast eine Art Sucht" nennt es Helmut Schwarz, der seit seinem 18. Geburtstag jedes Jahr eine Fernreise unternimmt.

Frühstück mit Blick auf den A-Bomb-Dom

Der Himmel leuchtet blau über Hiroshima. Er ist so wolkenlos, wie er das am 6. August 1945 morgens um 8.15 Uhr war, als die erste Atombombe über besiedeltem Gebiet gezündet wurde. Allein bis Ende 1945 starben 140.000 Menschen durch eine einzige Bombe.

Jetzt steht die Gruppe in der Gedächtnisstätte, die für die Opfer errichtet wurde. Sie ist durch den Friedenspark gelaufen, jene weitläufige Grünanlage, die bis zu jenem 6. August einer der am dichtesten besiedelten Bezirke Hiroshimas war. Sie wird noch das Friedensmuseum besichtigen und dort vieles erfahren und sehen, was man in dieser Eindringlichkeit noch nicht gesehen hatte. Als Berichte von Kindern in einer Dokumenation vorgelesen werden, die ihre Angehörigen unter den Trümmern begraben zurücklassen mussten, als Opfer der nahenden Feuerwalze, füllen sich viele Augen mit Tränen.

Frühstück mit Blick auf den A-Bomb-Dom, die Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelslkammer mit der berühmten Stahlkuppel - damit kommt nicht jeder klar. Eine Frau erzählt, sie habe den ganzen Abend auf ihrem Hotelzimmer gesessen und geheult. "Aus Scham, sich nur zu meinem Vergnügen in dieser Stadt des Leidens aufzuhalten." In der jüngsten Millionenstadt Japans, in der heute viermal mehr Menschen leben als im August 1945.

Japan auf eigene Faust zu erkunden, ist auf einer solchen Gruppenreise nur sehr bedingt möglich. Zumeist beschränkt sich das auf Besuche in Cafés oder Restaurants. Als Reiseland für Touristen, die auf Strände, aber nicht auf Komfort verzichten können, ist Japan ideal. Seine Anmutung ist exotisch, seine Infrastruktur womöglich noch besser als die unsrige. Die U-Bahn? Ein Wunder. Die Mittelklasse-Hotels? Blitzsauber, was sonst. Die Reisebusse? Bestens ausgestattet. Und die Kriminalitätsrate gilt als eine der niedrigsten der Welt. "Es gibt keine No-Gos, nicht einmal in Tokio", sagt Eva Winde.

Um zu begreifen, wie weit Odnung und Sauberkeit made in Japan gehen, muss man am Abend durch eine Tokioter Einkaufs-Passage laufen, wenn die Läden längst geschlossen sind. Obdachlose kommen zu dieser Zeit hierher und bauen ihre Schlafstätten aus Karton wie Einfamilienhäuser auf. Hintereinander ausgerichtet und wie mit dem Lineal gezogen stehen die Kartonhütten da. Selbst dort, wo die Ordnung und Disziplin aufhören, wo die Menschen nichts mehr haben außer ihrer Freiheit, können sie in Japan einfach nicht von ihren eingeübten Tugenden lassen.

© SZ vom 13.3.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: