Porträt:Im Schatten der Briten

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N. Knecht: Pionier und Gentleman der Alpen. Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828-1914). Limmat, Zürich 2014. 208 S., 31 Euro. (Foto: N/A)

Die Erstbesteiger vieler Alpengipfel hätten es ohne ihn nie geschafft: ein lesenswertes Porträt des legendären Schweizer Bergführers Melchior Anderegg, der trotz seiner Bescheidenheit zu einem Helden wurde.

Von Stefan Fischer

Der britische Bergsteiger Leslie Stephen war bekannt als ungeduldiger, reizbarer und recht ehrgeiziger Mensch. Dünkelhaft war er ohnehin, im 19. Jahrhundert gab es da unter seinesgleichen keine Ausnahme. Es hat deshalb viel zu bedeuten, wenn Stephen in dem wegweisenden Bergbuch "The Playground of Europe" im Jahr 1871 schreibt: "Wahrheitsgemäß müsste es von allen meinen Hochfahrten heißen, dass Michel oder Anderegg oder Lauener Dinge vollbrachten, die Kunst, Ausdauer und Mut erforderten und deren Schwierigkeit durch die Belastung mit dem Rucksack und dem Arbeitgeber gesteigert wurde . . . Mein Verdienst beschränkte sich darauf, besseren Könnern mit Würde und einigem Geschick nachzusteigen."

Es ehrt Stephen, die Bergführer als die wahren Helden des Goldenen Zeitalters im schweizerischen Alpinismus zu würdigen - gemeint ist das Jahrzehnt zwischen 1854 und 1865, als nahezu alle wichtigen Erstbesteigungen stattgefunden haben. Zumal man auf die Einschätzungen bergwütiger Briten bis heute angewiesen ist, wenn man Leistungen wie die der Genannten Christian Michel, Melchior Anderegg oder Ulrich Lauener bemessen möchte. So wie Natascha Knecht das tut in ihrem gründlichen, durch ein kreatives Layout sowie alte Karten und Stiche ansprechend gestalteten Porträt "Pionier und Gentleman der Alpen" über den Bergführer Melchior Anderegg, der wie sie aus dem Haslital stammt.

Denn so sehr sich Typen wie Anderegg auf ihr Kerngeschäft verstanden, so wenig taten sie für ihren Ruhm. Der war ohnehin rasch groß. Melchior Anderegg war einer der ersten geprüften Hochgebirgsführer der Schweiz, er war bald auf ein Jahr im Voraus ausgebucht. Sein erstes Bergführerbuch, das unter anderem als eine Art Gewerbeschein galt, wurde ihm umgehend gestohlen - und der Alpine Club in London warnte in seinem Jahrbuch, man möge nicht jenem Scharlatan auf den Leim gehen, der sich mit dem gestohlenen Büchlein als das Original ausgebe.

Andereggs Ruf fußt allein auf seinen bergsteigerischen Leistungen, nicht auf geschicktem Marketing. Trotz bester Absichten liegt Edward Whymper, einer der Erstbesteiger des Matterhorns, insofern falsch mit seiner vom zeittypischen Pathos getragenen Eloge auf Anderegg: Er konstatierte in seinem Standardwerk "Scrambles Amongst The Alps", dieser beste aller Bergführer sei in den Bergen der Schweiz so bekannt wie sonst auf der Welt Napoleon - "Melchior ist auf seine Art auch ein Kaiser, ein Fürst unter den Führern. Sein Reich ist der ewige Schnee, sein Szepter der Eispickel." Die Eitelkeit und Großmannssucht Bonapartes sind dem wortkargen, pragmatischen und umsichtigen Bergmenschen nämlich komplett fremd.

Natascha Knecht verwebt Melchior Andereggs Lebensweg mit den generellen Entwicklungen, die der Tourismus und der Alpinismus in seiner Heimat nehmen. Beides ist voneinander losgelöst ohnehin nicht zu denken. Es dauert eine Weile, bis man ihm als Leser nah genug ist, um auch etwas über den Privatmenschen Melchior Anderegg zu erfahren. Was seinem Naturell entspricht, das insofern in Natascha Knechts Erzähldramaturgie eine schöne Entsprechung findet.

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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