Pilgerwanderung:An die Ufer des Tiber

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Das Gehen wird zur zweiten Natur: Zu Fuß auf Pilgerreise vom Marienplatz in München zum Petersplatz in Rom in 53 Tagen.

Von Christian Jostmann

"Der geht wohl nach Venedig", sagt der Radfahrer. Er ist ein sportlicher Typ, braungebrannt, grauhaarig, trägt ein weißes Polohemd, dessen rechter Ärmel leer ist.

Am Münchner Marienplatz ging die Wandertour los. (Foto: Foto: ddp)

Er hat sein Tempo verlangsamt und rollt neben mir. "Nein, ich will nach Rom." Ein paar Augenblicke lang sagt er nichts, dann, mit leuchtenden Augen: "Die totale Kasteiung, oder?"

Vielleicht hat der Mann Recht und man muss bescheuert sein. Zu Fuß vom Münchner Marienplatz zum Petersplatz in Rom gehen, dabei keine Verkehrsmittel benutzen, keinen Schlafplatz im Voraus reservieren und wenig Geld ausgeben: Reisen wie die Pilger früherer Zeiten.

Die alten Routen sind allerdings nicht mehr begehbar. Durchs Inntal und über den Brenner, durchs Eisack- und Etschtal führen heute Eisenbahnschienen und Autobahnen. Die Verkehrsrevolution hat die Fußgänger, wie andere bedrohte Spezies, in unwirtliche Gefilde vertrieben.

Dafür überzieht ein engmaschiges Netz von Wanderwegen die Rücken und Kämme der Alpen. Manche sind regelrechte Fernstraßen wie der so genannte "Traumpfad" von München nach Venedig, auf dem sich in der Hochsaison richtige Staus bilden, oder die weniger frequentierten Europäischen Fernwanderwege E 10 und E 5.

Auf ihnen kommt man durchs Karwendel und die Zillertaler Alpen über die Pfunderer Berge; in Hall, Brixen und Bozen die alte Pilgerstraße kreuzend, gelangt man über die Lagorai-Kette, das Pasubio-Massiv, die Carega und durch die Lessinischen Alpen bequem bis Verona.

Der Weg der Götter

Weiter unten auf der Halbinsel kann man den Appenin auf der "Via degli Dei" überqueren.

So heißt ein vom Club Alpino Italiano markierter Wanderweg von Bologna nach Florenz, der sechs Tage lang durch einsame Wälder, malerische Dörfer, über freigelegte römische Militärstraßen und an riesigen Brombeersträuchern vorbeiführt.

Aber nicht von den himmlisch süßen, daumengroßen Früchten leitet der "Götterweg" seinen Namen her, sondern von einigen Bergen, die nach römischen Gottheiten benannt sind, wie der felsige Monte Adone oder der Monte Venere. Je weiter man nach Süden kommt, umso mediterraner wird die Landschaft.

In den Alpen bilden das Rauschen eines Bachs, das Plätschern eines Wasserfalls, das Murmeln eines Rinnsals unter dem Geröll die stete Begleitmusik des Wanderns.

Unzählige Kapillaren und Äderchen durchziehen das Gebirge, vereinigen sich unter dem Gesetz der Schwerkraft zu Venen und Aorten, zu immer breiteren Flüssen, und verwandeln es in einen lebendigen Organismus.

Um einen solchen Empfang auf dem Petersplatz zu bekommen, braucht man das Glück, dass gerade eine Messe statt findet. (Foto: Foto: AP)

Das Tosen des Hintertuxer Gletschers dringt durch die Tür herein. Ich hocke beim Schein der Stirnlampen im Flur des Spannagelhauses, zwischen holzgetäfelten Wänden und geparkten Wanderschuhen, und frühstücke bröseliges Vollkornbrot mit Marmelade. Zu trinken gibt es eine in Wasser aufgelöste Vitamintablette.

Der höchste Punkt

Mit der Friesbergscharte, einem mannsbreiten Durchgang auf 2904 Metern, ist der höchste Punkt der Reise erreicht. Ich umrunde den Olperer auf dem Berliner Höhenweg. Zur Linken blinkt der Schlegeisspeichersee, dahinter ein metallisch blauer Gletscher, umrahmt von Hochfeiler und Möseler.

Über den Kamm dazwischen wälzen sich, wie Schaum aus einer überfüllten Badewanne, dickleibige Wolken. Alles ist hell und licht, mit Flechten bedeckte Felsen leuchten neongrün in der Sonne. Ein kräftiger Südwestwind trocknet den Schweiß in den Poren.

Irgendwann liegen die Alpen hinter und die Po-Ebene vor mir. Mit dem Auto oder Zug bräuchte man nicht mehr als eine gute Stunde, um sie zu durchqueren: Maisfelder, Pappelplantagen in Reih und Glied, kubische Häuser mit Zäunen aus Gussbeton und Türen aus Aluminium, Kanäle, die sich im Nirgendwo verlieren. Darum übergehen Reisende die Po-Ebene gern.

Fußwege gibt es keine

Wer jedoch die 130 Kilometer zwischen Verona und Bologna zu Fuß durchmisst, macht die Erfahrung des Raumes. Sein Blick verliert sich stundenlang in der Weite des Horizonts, das monotone Klacken des Wanderstocks auf dem Asphalt füllt die Zeit.

Fußwege gibt es hier keine. Man muss auf der Straße gehen, eine Landkarte im Maßstab 1:150 000 in der Hand, und sich mit den italienischen Autofahrern herumschlagen, die sich tatsächlich als so schlimm erweisen wie ihr Ruf.

Am zweiten Abend, genau an der Grenze zwischen der Lombardei und der Emilia-Romagna, hält mich ein kleiner Mann mit stoppeligem Haar an, der einen Eimer mit Tomaten über die Straße schleppt. Er führt mich auf seinen Hof, tischt mir Lambrusco auf und lädt mich ein, bei ihm zu übernachten.

Festung, Bar, Altenzentrum

Guido ist 63 Jahre alt und stolz darauf, Bauer zu sein. Hinter sanguinischer Heiterkeit verbirgt er großen Kummer. Im Frühjahr ist sein einziger Sohn an Krebs gestorben. Kurz darauf sein greiser Vater. Im Juni seine Frau. "Was soll ich tun? Für wen soll ich jetzt arbeiten?", fragt er mit heiserer Stimme.

Mein Gastgeber fährt mich zum Ufer des Po. Dunkel und massig ragt eine Festung über den Deich. Die Ferrareser haben sie einst gebaut, um ihr Territorium gegen die Venezianer zu verteidigen. Gleich daneben steht ein Altenzentrum, was soviel heißt wie: eine Bar. Ich setze mich zu den Männern auf die Terasse.

Ihren Gesichtern sieht man an, dass sie ihr Leben auf dem Feld verbracht haben. Sie loben Guido, weil er mich aufgenommen hat: "Fai bene", sagen sie und klopfen ihm auf die Schulter.

Am nächsten Morgen verabschieden wir uns wie alte Freunde. Er schenkt mir ein Hemd seines Sohnes. Ich verspreche, es zu tragen, wenn ich in Rom ankomme.

Auf der Straße nach Bondeno findet ein Lkw-Rennen statt. Lauter Dreiachser mit Anhänger, die Mais von den ländlichen Sammelstellen holen. Auf viele Italiener wirkt der Anblick eines Wanderers befremdlich.

Ihre Ausflüge in die Natur enden oft auf einem Parkplatz, wo sie lange Tische aufstellen, an denen Großfamilien Platz finden, und ausgiebig picknicken. Aber wenn man ihnen erklärt, dass man nach Rom geht, geizen sie nicht mit Anerkennung - "Bravo! Complimenti!" - und Hilfsbereitschaft.

Seltener ist es, dass sie einem erlauben, in ihrem Haus zu übernachten. Italien ist auch das Land der Maschendrahtzäune, der stets verschlossenen Hoftore, der Wachhunde, der "Vietato l'ingresso"-Schilder.

Übernachtung auf dem Kinderspielplatz

Der Priester von Erbezzo in den Lessinischen Alpen, ein feister Glatzkopf in Pantoffeln, den ich um ein Lager für die Nacht bitte, schimpft mich aus und empfiehlt mir den örtlichen Spielplatz. Es ist nicht das einzige Mal, dass ich unter freiem Himmel schlafe, in einem Pfirsichhain, unter den Zweigen einer Kastanie oder eines Ölbaums.

In der Toskana und in Latium lässt sich die Jahrtausende alte Kultur des Pilgerns noch mit Händen greifen. Hier kann man Reste der Via Francigena betreten, der Frankenstraße, die von Canterbury nach Rom führte und die ihrerseits der römischen Via Cassia folgte.

Hier säumen Kirchen und Spitäler den Weg, die eigens für die Nöte der Pilger, die leiblichen ebenso wie die seelischen, errichtet wurden. Viele waren Ableger der berühmten Santa Maria della Scala in Siena. Aber die einzigen Orte, wo diese Kultur noch gelebt wird, sind die Klöster: Monte Senario, Monte Oliveto Maggiore, der Trappistenkonvent Vitorchiano und andere.

Überirdische Mönche

Fra Pierino, Doménique und ihre sechs Mitbrüder haben sich vor einigen Jahren am Fuß des Monte Amiata niedergelassen, in einem Tal mit Ölbäumen, Zypressen, Feigen und Wein, um nach der Regel des Heiligen Norbert von Xanten zu leben.

Einst blühte hier eine große Abtei, von der nur die Kirche Sant'Antimo, ein Juwel der romanischen Architektur, die Jahrhunderte überdauert hat. Die Mönche tragen weiße Gewänder, in denen sie sehr feierlich, fast überirdisch aussehen. Ihr gregorianisches Stundengebet verhallt in dem hohen Kirchenschiff.

Für Florenz, dieses Renaissance-Disneyland für amerikanische Studenten, reicht ein Abend, um ein Eis in der berühmten Gelateria Vignoni zu essen. Das Chianti war voller Dornengestrüpp und deutscher Mittelklassewagen. Durch Siena wälzten sich Ströme von Schulklassen und Studienreisegruppen und spülten mich hinaus ins sanfte Hügelmeer der Crete Senesi.

Zehn Stunden täglich, rund vierzig Kilometer: Das Gehen hat aufgehört, Tätigkeit zu sein. Es hat sich vom Gehenden gelöst, ist als eigenes Wesen erkennbar geworden, als unerschöpflicher ruhiger Fluss, der im Innern entspringt, den Körper durchströmt und durch die Beine in die Welt hinausfließt.

Rom ist nah

Das erste Zeichen sind, drei Tage vorher, die Flugzeuge im Landeanflug nach Ciampino. Das zweite die Schilder an den Landstraßen. Das dritte die Nummernschilder der Autos: Rom ist nah.

Seit der vorletzten Etappe, Sutri, sind wir zu zweit. Giovanni, ein pensionierter Schuster mit einer Physiognomie, die an Hindenburg erinnert, pilgert von seinem Haus am Comer See nach Rom. Wir überschreiten zusammen am Morgen nach Herbstanfang, am 53. Tag meiner Reise, die Milvische Brücke.

Um sieben Uhr stehen wir am Petersplatz und reihen uns ein in die Menge, die auf die Papstaudienz wartet. Ganze apulische Dörfer - Männer, Frauen, Kleinkinder, Teenager, Omas - sind in Reisebussen herbeigekarrt worden. Sie sind alle furchtbar aufgeregt, drängeln, streiten um Plätze, hantieren mit Mobiltelefonen. Ich ziehe das Hemd von Guidos Sohn über.

© SZ vom 17.5.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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