Lifestyle:Tinnitus statt Meeresrauschen

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Warum der Hypochonder mit der Einheit von Körper und Seele nicht das geringste Problem hat

Arno Makowsky

Natürlich wissen diese Psychofuzzis und Wohlfühlgurus mal wieder alles besser. Wir alle, so behaupten sie, haben den Kontakt zu uns selbst längst verloren. Hektik im Job, Stress mit der Familie, Angst vor herbstlichen Grippeviren - all die Grausamkeiten des Alltags entfremden uns vom eigenen Ich. Die Lösung haben die Selbstfindungsexperten auch gleich parat: Rituale fürs Alleinsein helfen uns, den richtigen Weg zum Ego zu finden.

(Foto: Illustration: Rita Berg)

Rituale? Alleinsein? Schon klar, woran Sie jetzt denken: an einsame Fahrradtouren über holländische Deiche, wo man mit sich, der Natur und dem Gegenwind ganz allein ist. Oder an mentale Entspannung beim Hand-Yoga, das zu gefährlichen Muskelzerrungen in den Fingern führt und uns so die Verletzlichkeit der eigenen Existenz vor Augen führt.

Das mag ja alles ganz okay sein und zu positiven Ergebnissen führen - vor allem bei der Auflage von Selbstfindungsratgebern. Den wirklich ultimativen Dreipunkteplan für erfolgreiches Alleinsein kennen aber nur avancierte Hypochonder. Die Broschüre mit dem Motto "Kranker Geist in einem kranken Körper" wird herausgegeben vom Verein "Entspannt leben mit 10.000 eingebildeten Krankheiten e.V.". Wir zitieren aus dem Kapitel "Spüre dich selbst, finde das Elend in dir".

Schritt 1: Setze dich in möglichst unbequemer Haltung hin, damit du alle Anzeichen heraufziehender Krankheiten möglichst schnell erkennst. Schließe die Augen. Gib dich deinen Ängsten hin. Was fühlst du?

Schritt 2: Analysiere nun schrittweise von oben nach unten sorgfältig alle Körperregionen. Beginne mit dem Kopf. Dieses leichte Ziehen hinter den Ohren: Es könnte ein Symptom für die beginnende Aufweichung der Schädelbasisdecke sein. Ein Kribbeln auf Augenhöhe weist deutlich auf krankhafte Veränderungen der inneren Kopfhaut hin. Und das permanente Jucken im Bereich der Obernase: Klarer Fall von ... - Du hast vergessen, wie die Krankheit heißt? Dann ist es wahrscheinlich Alzheimer. Fahre in diesem Stil fort, bis du alle Extremitäten sowie die wichtigsten inneren Organe durch hast. Undifferenzierte schmerzähnliche Gefühle im rechten Unterschenkel beispielsweise sind unheilvolle Vorboten einer Lähmung. Im Bauch und in der Brust spürst du heute gar nichts? Das ist leider kein gutes Zeichen. Man weiß ja: Die allerschlimmsten Krankheiten beginnen immer unbemerkt.

Schritt 3: Bist du nun völlig am Ende? Starr vor Angst, gepeinigt von Phantomschmerzen? Gut so. Jetzt bist du ganz du selbst. Denke jetzt kurz darüber nach, was Nicht-Hypochonder tun müssen, um diesen Zustand der vollständigen Einheit von Seele und Körper zu erreichen: zu Ayurveda-Kuren nach Sri Lanka fliegen, wo die Tsetsefliege lauert. Wellness-Hefte mit deprimierenden Artikeln über Alleinseinsrituale lesen. Oder einen Solotrip auf dem Fahrrad nach Holland unternehmen. 50 Kilometer gegen den Westwind, das Rauschen der Nordsee wie einen fiesen Tinnitus.

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