Lesen an Bord:Gegen alle Winde

Zeit für dicke Schmöker: Eine Passage über den Atlantik bietet die Chance, lange am Stück zu lesen - und sich darüber mit anderen Passagieren auszutauschen.

Von Karl-Otto Saur

Der Name Erika Pluhar sagt Michaela Ranft-Meier wenig. Doch das hindert sie nicht, deren Buch "Im Schatten der Zeit" in die Hand zu nehmen und ein paar Seiten im Stehen zu lesen. Zum Zeichen, dass sie es in die nähere Auswahl für ihre Bordlektüre in Betracht ziehen will, legt sie das Buch in ein leeres Fach in der Bordbibliothek der Aida Diva, dem Schiff, das mit mehr als 2000 Passagieren über das Nordmeer nach New York unterwegs ist. 18 Tage waren für die Reise geplant, davon alleine acht Seetage, an denen Bücherliebhaber endlich die Zeit finden, all die Bücher zu lesen, zu denen sie im Alltag nur selten kommen.

Lesen an Bord: Hier können Passagiere das Lesen noch stilvoll zelebrieren, auf Wunsch auch bei einer gepflegten Tasse Tee: Die zweistöckige Bibliothek der Queen Victoria, des jüngsten Schiffes der Reederei Cunard.

Hier können Passagiere das Lesen noch stilvoll zelebrieren, auf Wunsch auch bei einer gepflegten Tasse Tee: Die zweistöckige Bibliothek der Queen Victoria, des jüngsten Schiffes der Reederei Cunard.

(Foto: Mark Laing)

Als Michaela Ranft-Meier hört, dass Erika Pluhar Österreicherin ist, steht ihre Wahl fest. Ist doch einer ihrer Lieblingsautoren ebenfalls Österreicher: Daniel Glattauer, dessen Theaterstück "Gut gegen Nordwind" nicht nur das Genre der "E-Mail-Komödie" entscheidend geprägt hat. Auch in Buchform sind seine Werke erfolgreich. Aber von Glattauer war in der Bordbibliothek auf Deck zehn wenig zu finden.

In der Bordbibliothek hat Andrea Schumacher das Sagen, ihr offizieller Titel lautet "Entertainment Office Manager". Sie hatte dafür gesorgt, dass die zunächst nur bescheiden gefüllten Bücherregale immer voller wurden. Als in Hamburg jede Menge Lebensmittel an Bord der Aida Diva für die lange Reise gebunkert wurden, kamen auch Bücherkisten mit an Bord. Nur deren Inhalt war nicht ganz so frisch wie die Lebensmittel. Die Aida-Zentrale bedient sich für ihre Bibliotheken auf den insgesamt zwölf Schiffen am Markt des modernen Antiquariats, auch Ramschhandel genannt. Was aber nicht bedeuten muss, dass die Ware minderwertig ist. Im Gegenteil, manchmal überschätzen sich Verleger bei der Festsetzung der Auflage, weil das Buch zu anspruchsvoll ist.

Bordbibliotheken

Je größer das Schiff, umso kleiner die Bordbibliothek. Dies ist das Fazit der amerikanischen Reiseautorin und Kreuzfahrtkennerin Linda Garrison. Es gelte aber auch: Je teurer die Reise, umso besser das angebotene Kulturprogramm. Die größte Bibliothek finden die Reisenden auf den Schiffen der traditionsreichen Cunard Line, die ja einst den Linienverkehr zwischen Europa und den USA dominiert haben. Die Queen Mary 2 ist heute noch das Schiff mit dem größten Leseangebot: Mehr als 11 000 Bände finden sich hier, davon fast 1000 in deutscher Sprache. Dazu kommt ein wachsendes Angebot an E-Books und Hörbüchern. Eine weitere Besonderheit: Eine ausgebildete Bibliothekarin leitet die Bordbibliothek.

Einen neuen Weg schlägt Tui Cruises ein. Die Mein-Schiff-Flotte bietet auf ihren Schiffen jeweils eine Art Buchhandlung an. Versorgt werden die Verkaufsstätten von der Großbuchhandlung Thalia.

Und so gibt es auch in der Bordbibliothek der Diva ein vielseitiges Angebot. Neben Taschenbüchern der Herz-Schmerz-Klasse und vielen Krimis und Thrillern wurde so am dritten Tag auch eine größere Lieferung des Suhrkamp Verlages ausgepackt, Bücher von einem der anspruchsvollsten Verlage des Landes.

Doch diese Kategorie hat es schwer bei den Passagieren. Das Anspruchsvolle bringen die meisten Gäste selber mit. Gefragt sind aus der Bordbibliothek vor allem Titel, die sich mit der gebuchten Reise befassen. Liegt Island auf der Reiseroute, haben nicht nur Reisebeschreibungen Konjunktur, sondern auch Romane und Erzählungen über die Trolle und Feen des Landes. Aber auch der leicht schrullige Humor vieler isländischer Autoren trifft auf ein dankbares Publikum.

Kreuzfahrten

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Dazu trägt eine Frau bei: die auf dem Schiff allgegenwärtig erscheinende Ulla Keienburg, die nicht nur Fotokurse anbietet, sondern als ausgebildete Sprecherin seit neun Jahren Vorleserin auf Schiffen ist. Bis zu zwei Dutzend - meist weibliche - Gäste versammeln sich, wenn sie aus dem Reisekoffer einen Band nach dem anderen zieht und zur Wahl stellt. Ihre Art, dem sonstigen Unterhaltungsangebot an Bord etwas Ruhigeres gegenüberzustellen, trifft auf ein kleines, aber umso dankbareres Publikum. Auch die Schauspieler Anja Herbertz und Rayk Gaida bauen bei ihren Lesungen auf dieses Konzept. Mit Kurzgeschichten und Krimikost halten sie auch bei stürmischer See die Passagiere bei Laune.

Reiseinformationen

Aida bietet auch 2017 Transatlantik-Reisen an. Am 23. August startet die Aida Luna von Kiel nach New York. In 17 Tagen geht es über Island, Grönland und Ostkanada bis New York. Preis: ab 2525 Euro pro Person in der Innenkabine. Am 1. September legt die Aida Diva in Warnemünde mit Zielhafen New York ab. In 17 Tagen geht es über Norwegen, die Orkney-Inseln, Island, Grönland und die kanadische Ostküste nach New York. Preis: ab 2470 Euro pro Person in der Innenkabine (www.aida.de).

Die Besucher der Bordbibliothek lassen sich in zwei große Gruppen einteilen. Die Zufallsleser, die sich von Titel oder Umschlagseiten locken lassen, und die, die gezielt suchen. Eine Leserin durchstöbert die Bücherregale auf der Suche nach dem Roman "Tausend strahlende Sonnen" von Khaled Hosseini. Sie hatte tags zuvor die ersten Seiten dieser afghanischen Familiengeschichte während der Taliban-Herrschaft angelesen, und wollte nun das Buch weiterlesen. Aber es war ihr schon jemand zuvorgekommen. Neben ihr stand der Hamburger Jens Festenburger, der stolz Sepp Bierbichlers bayerische Familiengeschichte "Mittelreich" vorzeigte. Er wusste wenig über den Autor, aber dessen Name gefiel ihm so gut, dass er sein Buch aus dem Regal zog. Und er war durchaus zufrieden, von der Nordsee literarisch ins bayerische Oberland umzusiedeln. Den umgekehrten Weg ist Brigitte Müller gegangen. Sie hat sich bereits vor der Reise entschlossen, die Zeit zu nutzen, um mehr über die Geschichte Islands und seiner Bewohner zu erfahren. Die in ihrem Heimatland sehr bekannte Autorin Kristin Marja Baldursdottir hat sich auf historische Lebensgeschichten spezialisiert. Von ihr hatte sich Brigitte Müller den Roman "Die Eismalerin" gewählt, das Leben einer Frau, die sich von den harten Lebensbedingungen des Nordens nicht unterkriegen ließ.

Wie Bücher manchmal das Leben von Menschen begleiten, zeigt sich an einem kleinen Stapel von Büchern in der Bibliothek, deren verblichene Leinen-Einbände erzählen, dass sie alle über 50 Jahre alt und teils mit Widmungen und handgeschriebenen Namen des Besitzers versehen sind. Da tauchen dann Bücher von einst populären Autoren wie Peter Bamm oder Manfred Hausmann auf, die jedoch heute kaum noch jemand kennt.

Das heißt aber nicht, dass die Passagiere der Aida Diva nicht an Geschichte interessiert sind. Beispielhaft ist dafür Matthias Henselein, der ein wenig damit kokettiert, kein großer Leser zu sein. Aber stolz erzählt er, dass ein 600-Seiten-Buch sein politisches Bewusstsein grundlegend verändert hat: "Die Bucht" von James Michener, das er kurz vor der Reise begonnen hatte. Der amerikanische Autor hat mit seinen vielen Büchern mehr als jeder Historiker das Geschichtsbewusstsein ganzer Generationen von Amerikanern geprägt und zwar vor allem für solche Leser, die bereit sind, auch die Opfer in der amerikanischen Geschichte nicht zu vergessen.

Etwas außergewöhnlich ist die Wahl des 46-jährigen Lutz Kempt aus Rheinsberg, der mit seiner Frau Regina und einem befreundeten Ehepaar unterwegs ist. Er hat ein Buch auf die Reise mitgenommen, das nicht gerade zur Ferienstimmung auf einem Schiff zu passen scheint. Der ehemalige KZ-Häftling Gustl Steiner hat unter dem Titel "Der endlose Weg" seine Erinnerungen an sein Martyrium geschrieben. Lutz begründet seine Wahl mit seinen Schulerfahrungen in der DDR. Schon früh habe er das Gefühl gehabt, dass man über die politischen Opfer im Dritten Reich nur das erfahren habe, was ins politische Bild der damaligen Machthaber passte. Zum Ausgleich für die schwere Kost hat er aber auch noch etwas anderes dabei: Tess Gerritsens Krimi "Der Schneeleopard". Viele Bücher der amerikanischen Autorin spielen im Milieu der Gerichtsmedizin und sind auch in Deutschland auf den Bestsellerlisten zu finden.

Wer sich bei den Krimis nicht so auskennt, hätte sich an Hans Gurka wenden können. Der Krankenhausapotheker aus dem Allgäu erweist sich als Experte für anspruchsvolle Krimis. Sein Favorit ist der norwegische Autor Jo Nesbø. Von ihm findet sich in der Bibliothek allerdings nur ein Titel. Aber wenn man an einem der Sonnentage über Deck geht, sieht man, wie vielfältig auch im Düsenzeitalter die Gelegenheit genutzt wird, mit Hilfe des alten Mediums Buch die Welt zu erfahren und auch ein wenig erklärt zu bekommen.

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