Kulturregion Trentino:Drinnen, draußen, staunen

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Kunst und Natur sind keine Gegensätze, bedingen sich sogar. Das lernt der Besucher im preisgekrönten naturwissenschaftlichen Museum "Muse" in Trient sowie beim Land-Art-Projekt "Arte Sella".

Von Evelyn Vogel

Dieser Gipfelsturm ist ein Kinderspiel. Nach nur zwei bis drei Stunden steht man zwischen spitz aufragenden Wänden - doch solchen aus Stahl und Glas. Denn nicht der Langkofel, der Rosengarten oder die Drei Zinnen sind das Ziel dieses Aufstiegs, sondern die Dachterrasse des "Muse", des naturwissenschaftlichen Museums in Trient. Die steilen Gipfel der Dolomiten ragen weiter im Norden empor. Dafür wirken die Bergrücken des Monte Bondone und der Paganella zum Greifen nah, und zu Füßen fließt die Etsch in ihrem breiten Flussbett träge dahin.

In der Natur: das Projekt Arte Sella, hier eine Arbeit von Jaehyo Lee. (Foto: Giacomo Bianchi)

Wie oft werden Museen beziehungslos in die Stadt- oder Natur-Landschaft geklotzt. Weil der Bauherr ein sogenanntes Signature Building fordert, das den Betrachter staunen machen und so den Bilbao-Effekt garantieren soll. Selten hat ein Architekt die umgebende Landschaft so perfekt in seine Architektur aufgenommen wie der italienische Pritzker-Preisträger Renzo Piano dies bei dem Muse im Trentino getan hat. Entstanden ist ein unverkennbares Gebäude mit Signalwirkung, aber eines, das innen wie außen im Dialog mit der Natur steht. Wie die Berglandschaft mit Gipfeln und Plateaus liegt das Muse mit seinen schräg aufgestellten Dachflächen und breiten, mit Holz ausgelegten Terrassen am Rande der Stadt. Wo einst die Industrie regierte, sind seit drei Jahren die Naturwissenschaften zu Hause.

Im Muse kann man Wissenschaft sinnlich erleben. (Foto: Mauritius)

Im Tiefgeschoss markiert ein Saurierskelett den Beginn der Entwicklungsgeschichte durch 4,5 Milliarden Jahre. Hier wird die Entstehung der Erde bis zum Auftauchen der ersten Säugetiere erklärt. Vom Erdgeschoss geht es über fünf Ebenen hinauf durch Meere, Wälder und Wüsten, über Vulkane, Berge und Gletscher bis in die Hochregionen der Alpen. Im Lichthof, der sich wie ein Berg aus Glas nach oben zieht, schweben auf allen Ebenen Tiere in der Halle: Landtiere, Wassertiere, Vögel. Es sieht aus, als ob sämtliche Passagiere der Arche Noah ihr rettendes Schiff verlassen hätten, um auf gläsernen Podesten durch die Lüfte zu surfen.

(Foto: sz)

Dass das Museum rechtzeitig fertig werden würde, mochte man im Frühsommer 2013 kaum glauben. Wenige Tage vor dem Eröffnungstermin stapfte man auf den 5000 Quadratmetern Ausstellungsfläche noch zwischen Gerüsten und Kabelsalat herum, überall hämmerten und bohrten Arbeiter, Staubmatten bedeckten die Böden, allenthalben gab es noch Lücken. Aber wie zum Trotz schwebten schon damals die Hirsche und Büffel, Delfine und Wale, Singvögel und Adler durch die Lüfte.

Sie alle begleiten seither die Besucher auf ihrem Weg durch die Jahrtausende. Wissenschaft zum Staunen und Anfassen, traditionell konserviert ausgestellt oder technisch raffiniert aufgearbeitet, sodass die Besucher zum Herumexperimentieren eingeladen sind. Vom einfachen Knöpfchendrücken, wie es im ehrwürdigen Deutschen Museum in München immer noch oft Standard ist, ist man hier weit entfernt.

Neben zahlreichen Exponaten aus allen Epochen der Erdgeschichte, vielen Videos und Animationen laden immer wieder interaktive Projekte zum Mitmachen ein und schicken Kinder wie Erwachsene auf eine globale Entdeckungsreise. Da gibt es multimediale Sternenwelten, Erdkugeln und Zeitmaschinen. Aber auch ganz naturnah kann man das Museum und seine Exponate erleben. Aug' in Aug' mit den Bewohnern des Wassers steht man vor den Aquarien, auch wenn die Scheibe den Betrachter von der Unterwasserwelt trennt. Dafür kann man die Pflanzen im tropischen Garten betrachten, während man die feucht-warme Luft auf der Haut spürt und einem der satte Geruch der Erde in die Nase steigt. Weiter oben, wo das ewige Eis erklärt wird, gibt es sogar ein echtes Stück Gletscher zum Anfassen. An vielen Stellen steht das sensorische Erleben im Mittelpunkt. Tasten, fühlen, riechen, mit allen Sinnen erleben gehört zum Konzept - auch wenn das Tier nur aus der Präparatorenkammer kommt, der Neandertaler aus Wachs geformt ist und der Gletscher künstlich erhalten werden muss.

Beim Rundgang durch das Muse lernt man so viel über die Geschichte der Erde und die Entwicklung von Mensch und Tier, auch über Nachhaltigkeit und die Welt von morgen, dass man nach diesem wissensträchtigen Gipfelsturm von der Aussichtsterrasse aus dann ganz anders auf die Natur schaut, die einem zu Füßen liegt.

Natur und Kunst statt Natur und Wissenschaft - diese Verbindung geht auf überzeugende Weise das Land-Art-Projekt Arte Sella ein. In dem Gebiet, nur eine knappe Autostunde östlich im Sella-Tal gelegen, schaffen Land-Art-Künstler seit 30 Jahren Objekte mit und in der Natur. Herausragend im wahrsten Sinne des Wortes ist die "Pflanzenkathedrale", die der lombardische Künstler Giuliano Mauri 2001 geschaffen hat. Wie eine gotische Kirche steht sie da und wird von Jahr zu Jahr nicht nur voluminöser, sondern wechselt mit den Jahreszeiten auch ihr Aussehen. Ihre drei "Kirchenschiffe" bestehen aus 80 Säulen aus miteinander verflochtenen Zweigen. Jede Säule ist zwölf Meter hoch und hat einen Durchmesser von einem Meter. In ihrem Innern wachsen Hainbuchen, und die haben aus dem anfangs noch recht kargen Gerippe in den vergangenen 15 Jahren eine Kathedrale aus Blattwerk geschaffen, so dass es selbst im Hochsommer eine Lust ist, darin zu wandeln.

Zweige, Holzstücke, ja ganze Bäume - unbehandelt rindig, grob gesägt oder schmeichelglatt geschliffen - wurden von den Künstlern aus aller Welt zu frei stehenden Objekten oder Bodenarbeiten geflochten, ausgeschnitten und zusammengesetzt. Da gibt es Kegel, Kugeln und Schnecken, Stelenfelder, Spiralen und Räder, die als Solitäre im Wald stehen, kleine Täler überspannen oder sich wie Wächter an Aussichtspunkten erheben. An anderen Stellen trifft man auf durch den Wald mäandernde Linien aus geschichtetem Papier oder Ästen - fließende Bodenarbeiten im Einklang mit der Natur. Andererseits gibt es auch Arbeiten aus Stein, die sich in die Landschaft hineinspannen oder den Blick des Betrachters fokussieren. Steine des Anstoßes - zum Nachdenken über die Natur.

Die Objekte begleiten in ihrer mitunter gegenständlichen, oft aber auch abstrakten Form die Wanderungen durch das Arte-Sella-Projekt. Für den gesamten Arte-Natura-Weg sollte man gut zwei Stunden einplanen. Im Bereich rund um das Kulturzentrum Malga Costa lässt sich das Land-Art-Projekt in weniger als einer Stunde begehen. Theoretisch. Denn ehe man sich's versieht, ist der Entdeckergeist geweckt - und fast schon spielerisch folgt man den Verbindungslinien der Kunst durch die Natur.

© SZ vom 30.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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