Kalkutta:Die Unergründliche

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Keine Stadt der Erde hat einen schlechteren Ruf: Kalkutta verstört seine Besucher und zieht sie dennoch in den Bann.

Margit Kohl

Große Städte faszinieren, ganz große stoßen ab. Vor allem Kalkutta gilt seit jeher als Hort der menschlichen Apokalypse. Eine Megastadt mit Megaproblemen. Ein Unort, den man keinesfalls mit dem Vorhaben bereisen könne, dort eine der üblichen touristischen Stadtbesichtigungen zu unternehmen, so die Warnung eines Freundes.

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Der hatte Kalkutta gleich nach der ersten Nacht wieder verlassen. Fluchtartig und heulend. Abends hatte er einen jener Lastwagen durch die Straßen fahren sehen, der all die verhungerten Menschen wie Müll von den Bürgersteigen abtransportierte.

Das war 1980.

Die grüne Revolution im Süden Indiens war noch nicht bis in den Norden des Landes vorgedrungen. Hier trieb der Hunger die Landbevölkerung zu Tausenden nach Kalkutta. Doch längst konnte die Stadt ihre eigenen Bewohner nicht mehr ernähren.

Seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 und der daraus resultierenden Staatsteilung waren bereits all jene Hindus nach Kalkutta geflohen, die künftig nicht zum muslimischen Ost-Pakistan, dem späteren Bangladesch, gehören wollten. Mit der ehemaligen Kolonialhauptstadt der Briten war es aber ohnehin schon seit 1911, dem Jahr des Hauptstadtumzugs ins zentraler gelegene Neu-Delhi, permanent bergab gegangen.

Das einzige, womit es stetig bergauf ging, waren die Einwohnerzahlen. Heute leben in Kalkutta, das die Inder Kolkata nennen, etwa 15 Millionen Menschen. Wie viele es tatsächlich sind, weiß keiner so genau. Wie auch.

Die Pendler aus dem Umland, die sich täglich auf den weiten Weg zur Arbeit machen, zählt keiner. Und die meisten Gehwegschläfer mit nur einer Plastikplane als Obdach besitzen nicht einmal ein Dokument, das ihre Existenz bescheinigt.

Keine Stadt der Erde hat einen schlechteren Ruf.

Kalkutta gilt als Elendsmetropole, und Hymnen hat bislang kaum einer über die Hauptstadt Bengalens geschrieben. Wie zum Trotz gab Dominique Lapierre seinem Kalkutta-Roman den Titel "Stadt der Freude" und meinte dies keinesfalls ironisch. Aber was ist schon das Glück, wenn viele von ihm nur den Schatten sehen.

Und diesen Schatten malte Günter Grass in "Zunge zeigen" in ganz besonders düsteren Farben. Er schrieb von einem "Haufen Scheiße, wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte". Dennoch war er sechs Monate geblieben, um später abermals wiederzukommen.

Wie das zusammengeht?

Die Stadt ist voller Widersprüche, und ein Kalkutta-Besuch ist sicher mit Abstand eine der intensivsten Erfahrungen, die man als Reisender machen kann. Diese Stadt schafft einen, mit ihrem Lärm, ihrem Dreck und Gestank. Mit ihren allgegenwärtigen Krähen, die von jedem kalkgelöschten Müllhaufen zu krächzen scheinen.

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Mit ihrer tropischen Schwüle, die einem die Kleider am Körper kleben lässt. Mit ihren Menschenmassen und dem Geschubse und Gedränge, in dem man so lange vorangestrudelt wird, bis man keinen blassen Schimmer mehr hat, wo man eigentlich gelandet ist.

Doch vor nichts muss man sich hier fürchten, denn die Stadt ist alles andere als ein Hort krimineller Energie. Sicher, Kalkutta ist keine schöne Stadt. Doch sie ist aufregend und absolut einmalig.

Denn Kalkutta ist vielleicht das einzige funktionierende Chaos dieser Welt, weil das Chaos hier keinen Anfang und kein Ende nimmt. Alles ist im Fluss, alles ein ewiger Kreislauf.

Alle Versuche, diese Stadt in ein paar Tagen zu begreifen, sind hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. Ein solches Vorhaben gestaltet sich in etwa so, als müsse man die Welt auf die Größe eines Hühnereies schrumpfen. Wer diese Stadt verstehen will, muss als erstes in ihr schwarzes Herz blicken. Es schlägt im Tempel der Kali. Die schwarze Schutzpatronin gab der Stadt einst ihren Namen. Kali bedeutet die Schwarze und Kalikata hieß die erste Siedlung des späteren Kalkuttas.

Die schwarze Göttin ging der Legende zufolge gerne nachts auf Dämonenjagd. Da konnte sie ungesehen Bösewichter enthaupten und so die Seelen der Menschen retten, heißt es. Im Blutrausch hätte sie eines Nachts beinah auch ihren Mann geköpft, und als sie den Irrtum im letzten Augenblick erkannte, zeigte sie vor Scham die Zunge. Aus Zorn, würden wir wohl vermuten.

Nur, mit Vermutungen liegt man in Indien oft verkehrt. Hindus verehren Kali als die Zerstörerin, weil sie zugleich auch dafür sorgt, dass Neues entstehen kann. "Unsere verrückte Mutter", sagt ein Gebet, "die nimmt und gibt, gibt und nimmt".

Kalis Tempel ist eine der heiligsten Pilgerstätten der Hindus: Von außen eher unspektakulär, ist er täglich Anlaufstelle für Menschenmassen, die in sengender Hitze mehrere Stunden darauf warten, die mehrarmige Schreckensfigur mit blutrünstig gebleckter Zunge und einer Halskette aus abgeschlagenen Köpfen zu verehren.

Kali liebt Opfergaben, ist aber mit Blüten und Beten allein nicht zu besänftigen. Hinter dem Tempel befinden sich Holzblöcke, in deren Gabeln die Priester die Hälse von schwarzen Ziegen klemmen und ihr blutiges Werk verrichten.

Eine seltsam archaisch anmutende Szenerie inmitten von weggeworfenem Müll, zertretenen Blumen und Räucherstäbchen, dem Gedränge und Geschrei, wenn die Priester gegen einen Extraobolus wieder einmal einen Touristen, einen Ungläubigen also, nach vorne lassen.

Wer Kalkutta verstehen will, geht zum Fluss.

Genauer gesagt zum Hugli, einem Nebenarm des Ganges. Sein Ufer ist in Ghats gegliedert, wo gläubige Hindus beten, ihre Toten verbrennen und magische Rituale vollziehen. Im Stadtviertel von Kumartuli sind Handwerker das ganze Jahr über damit beschäftigt, aus Flussschlamm des Hugli Kali-Figuren zu modellieren und in den buntesten Farben zu bemalen.

Noch bevor das Jahr zur Neige geht, ziehen große Prozessionen zum Hugli, wo die zum Teil mehrere Meter hohen Rohskulpturen ins Wasser gelassen werden und somit wieder zu dem Schlamm werden, aus dem sie einst entstanden waren. Ein ewiger Kreislauf von Geben und Nehmen, Leben und Sterben.

Wenn es in Kalkutta ums Sterben geht, kommt man nicht umhin, an die Ordensschwestern in ihren typischen weißen Saris mit den blauen Rändern und an das Hospiz von Mutter Teresa zu denken. Es ist ein ockerfarbener Bau unweit des Kali-Tempels.

Kaum biegt man durch den Eingang um die Ecke, tritt man dem ersten kauernden Menschenbündel aus Versehen beinah auf die Hand, so unvermittelt landet man hier im Wartesaal des Todes. Im Halbdunkel hinter geschlossenen Läden liegen dicht an dicht etwa 100 Männer in grünen Hosen und blaukarierten Hemden auf mit Plastik bezogenen Pritschen.

Manche sind nicht mehr bei sich, abwesend, andere wimmernd. Vom Gehsteig Gesammelte, vom Krankenhaus als hoffnungslos Überwiesene. Krebs, Aids, Tuberkulose und Unterernährung sind die häufigsten Diagnosen. Mehr als 80.000 Männer und Frauen betreut der Orden jedes Jahr. Darunter soll es auch welche geben, die dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen sind.

Ein müdes Gesicht erhebt sich unter der Nummer 35 und reckt die Hand zum Gruß, so als gäbe es Grund zur Freude über die Besucher. Noch während man schweigend die anderen weißen Nummern über den Köpfen der Männer zu registrieren beginnt, wächst in einem der Zorn darüber, dass diese Menschen hier das Recht auf einen privaten Tod verloren haben.

Vielleicht ist es aber auch vielmehr der Zorn über sich selbst und darüber, dass man sich überhaupt bis hierher vorgewagt hat. Draußen sterben die Ärmsten der Armen auch öffentlich, wird die Schwester Oberin mit Recht später sagen. Und dass seit Mutter Teresas Nobelpreisverleihung die Leute hierher kommen und darum bitten, die Arbeit der Schwestern sehen zu dürfen. Da mag man nicht ungerecht sein bei soviel Nächstenliebe.

Die meisten Inder scheinen indes all dem Leid gleichgültiger zu begegnen, so als verstünden sie nicht, was diese Art der Menschenliebe beflügle. Vermutlich ist es aber vielmehr Gelassenheit als Gleichgültigkeit, denn für Hindus ist der Tod fest mit dem Glauben an die Wiedergeburt verbunden. Und wer davon ausgeht, dass er sich nach seinem Ableben sowieso wieder hinten anstellen muss, braucht sich in der Gegenwart nicht völlig verrückt zu machen.

Wie in allen Megastädten Indiens schwelgt sogar im kommunistisch regierten Kalkutta inzwischen eine kleine Elite in kaum vorstellbarem Luxus. Das Hauptquartier der IT-Glaspaläste liegt vor den Toren der Stadt in Salt Lake. Doch laut einer Regierungsstudie müssen immer noch etwa 836 Millionen der 1,1 Milliarden Inder mit weniger als einem halben Euro am Tag auskommen.

Leben in der Rikscha

Demnach ist zwar weltweit inzwischen jeder dritte Computerexperte ein Inder, aber auch jeder dritte Inder kann weder lesen noch schreiben.

So wie Suleman, der seit 30 Jahren als Rikscha-Zieher in Kalkutta arbeitet. Suleman schläft jede Nacht in der Rikscha, die noch nicht einmal die seine ist. Am Morgen wäscht er sich wie viele an einem der öffentlichen Hydranten, denn noch immer haben einige Häuser kein fließendes Wasser.

Seine Familie lebt 500 Kilometer entfernt auf dem Land, er sieht sie nur selten. Fürs Briefeschreiben muss er zum Postamt und dort einen der amtlichen Schreiber bezahlen. Fünf Rupien, umgerechnet zehn Cent, kostet ein Brief, und das ist viel, wenn man keine zwei Euro am Tag verdient.

Menschenrechtsorganisationen wollten die Arbeit der Rikscha-Zieher als menschenunwürdig verbieten lassen, was der Stadtregierung nicht ungelegen kommt.

Nach deren Meinung machen sich die sogenannten Pferdemenschen nicht mehr gut in einem Stadtbild, das doch vor allem im Ausland als fortschrittlich gelten möchte. Vermutlich können es jene Politiker auch kaum erwarten, bis endlich der morbide Rest der einst so prächtigen Kolonialbauten in sich zusammenstürzt.

Wer diese Stadt verstehen will, kommt nicht umhin, sich auch ihrem mörderischen Verkehrswesen aussetzen. Es ist bereits vier Uhr nachts: 35.000 gelbe Ambassador-Taxis gibt es in Kalkutta. Aber gerade jetzt kein einziges.

Der erste Amby wird also gern genommen, auch wenn man kurz darauf seine Entscheidung und die dringliche Ansage: airport - quick!, schon wieder bereut hat. Denn am Wagen, der eigentlich kein Oldtimer ist, sondern immer noch nach Bauplänen wie vor 60 Jahren in Kalkutta fabrikneu vom Band läuft, ist außer der Hupe und dem Motor kaum etwas funktionstüchtig.

Dass die Scheinwerfer kein Licht hergeben, scheint den Fahrer nicht zu kümmern. Die Straßenbeleuchtung ist des Nachts ohnehin sehr spärlich und an den großen Kreuzungen sind die Ampeln auf Blinklicht umgestellt.

Für den Fahrer heißt das, Hupen und Gas geben. Dabei ist er erst durch einen Lastwagen zu bremsen, der ebenfalls hupend aus der Seitenstraße herausgeschossen kommt. Doch sogleich setzt der Kamikazefahrer auf der Autobahn zum Überholen an und wechselt hierzu auf die Gegenfahrbahn.

Nur was zum Teufel macht dort ausgerechnet eine schwarze Ziegenherde mitten in der Nacht - auf Kalis scharfe Klinge warten? Selbst wenn man jetzt noch versucht, Ruhe zu bewahren, weil man fest daran glaubt, dass auch der kurzzeitige Geisterfahrer diese Fahrt überleben möchte, wird jede Kreuzung zum Stoßgebet: Oh, Kali, hilf, denn dieser Mann scheint von allen guten Geistern verlassen zu sein!

Selbst wenn das Flehen dieses Mal geholfen und man die Stadt unversehrt wieder verlassen hat, bleibt einem vieles rätselhaft. Dabei ist es wahrlich keine Schande, Kalkutta nicht gleich beim ersten Besuch durchschaut zu haben - ganz im Gegenteil. Wer Kalkutta verstehen will, muss einfach wiederkommen. Schließlich gibt es keinen Grund, an der Unergründlichen zu verzweifeln.

Selbst wenn einen an jeder Straßenecke die Probleme der ganzen Welt erwarten. Wie man das ertragen kann? Man wird nicht etwa gleichgültiger gegenüber all dem Leid, man lernt nur die eigenen Fehlschläge leichter zu ertragen.

Auch wenn man dabei wohl nie die Gelassenheit eines Hindu hinbekommen wird. Für Hindus ist das Leben wie eine Taxifahrt im Amby: einsteigen, aussteigen, umsteigen und im nächsten Leben auf eine Verbesserung hoffen.

Informationen

Einreise: Touristenvisum Indien für 30 Tage zu 50 Euro, www.indischebotschaft.de

Anreise: Lufthansa fliegt als einzige Airline mehrmals wöchentlich nonstop nach Kalkutta, Hin- und Rückflug Economy ab 826 Euro, Business 4603 Euro, www.lufthansa.com

Unterkunft: The Oberoi Grand gilt als bestes Hotel im Kolonialstil, 15 Jawaharlal Nehru Road, DZ ab 210 Euro, www.oberoihotels.com

Reisearrangements: Zu buchen über den Indienspezialisten Lotus Travel Service, Baaderstraße 3, 80469 München, Tel.: 089/201 12 88, www.lotus-travel.com

© SZ vom 22.11.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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