Im Bann der Anden (VII):Grenzerfahrungen

Lesezeit: 3 min

Das kalte Hochland Boliviens hinter sich zu lassen, fällt leicht. Doch erst gilt es die Fahrt Richtung Chile zu überleben - und gleich hinter der Grenze den nächsten Schock.

Antje Weber

Selten habe ich mich so darauf gefreut, ein Land zu verlassen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich die Grenze zwischen Bolivien und Chile jemals erreichen würde.

Bolivien begrüßt seine Gäste und hat vor allem Naturschönheiten zu bieten. (Foto: Foto: Jacobs/Weber)

Es hatte tags zuvor schon etwas seltsam angefangen. Mit Mühe hatten wir in Uyuni am Rande der bolivianischen Salzwüste noch zwei Plätze in einem Jeep ergattert, der zur Grenze fahren sollte, um dort andere Touristen abzuholen. Nachmittags ging es los, Fahrer Eusebio raste auf einer Schotterpiste in die schnell hereinbrechende Nacht - und bog plötzlich auf einen noch schlechteren, einsamen Nebenweg ab. Dort hielt er auf ein Auto zu, das neben einem in der Dunkelheit flackernden Feuer auf uns zu warten schien.

Ein abgekartetes Spiel, um zwei Touristen auszurauben? Nein, nur zufällig Eusebios Bruder mit Familie, deren uralte Karre liegen geblieben war.

Das war am Vorabend. Jetzt war es früher Morgen, wir hatten uns in einer schlichten Herberge durch die Nacht gebibbert, und Eusebio hatte uns eine Stunde zu spät, aber immerhin, wieder im Hostal abgeholt. Offensichtlich hatte er die Nacht genutzt, um "San Viernes" zu huldigen, dem "Heiligen Freitag", in allen Andenländern jede Woche wieder Anlass zu ausufernden Besäufnissen.

Eusebio war so müde und betrunken, dass er fast am Steuer einschlief. Ihm fiel nicht einmal auf, dass wir drei Stunden lang das immer gleiche Lied einer festhängenden CD hörten. Eine sehr hohe Frauenstimme weinte mit vielen Tränen ("lágrimas") einem Feigling ("cobarde") nach, und ihre Melancholie verstärkte meine aufkeimende Angst bald ins Unerträgliche.

Das Auto schaukelte indes unkontrolliert vom linken zum rechten Straßenrand und wieder zurück, durch karge, felsige, grandiose Anden-Einsamkeit, unterbrochen von grün-blau-lila schimmernden Seen. Nur das Gerumpel über besonders hohe Steine schien Eusebio wachzurütteln, ein Stups in die Seite - oder eine Handvoll Coca. Davon hatte er wie alle Bolivianer reichlich dabei; kein einziges Stück Brot von seiner Familie, bei der er übernachtet hatte, nicht einmal eine Flasche Wasser.

In Bolivien, so konnte man schon in den Wochen zuvor den Eindruck gewinnen, zählt der Einzelne nicht viel. Man kümmert sich nicht sehr um andere, dazu hat man angesichts der schwierigen Lebensbedingungen vielleicht auch keine Kraft. Doch oft kümmert man sich nicht einmal um sich selbst.

Bolivien, dieses extreme Land, extrem in seinen Gegensätzen von Höhe und Klima, hat insbesondere im Hochland harte Menschen hervorgebracht. Menschen wie Eusebio, die für wenig Lohn unermüdlich arbeiten. Die ausgebeutet werden und sich selbst ausbeuten. Coca lässt sie alles ertragen; eine Flasche Schnaps am Abend hilft auch. Und wenn am nächsten Tag der Jeep gegen eine Felswand rasen sollte, dann scheint das irgendwie auch egal zu sein.

Lesen Sie weiter, warum sich unsere Autorin trotz allem bald wieder nach Bolivien sehnt.

Welch eine andere Welt drei Stunden später in Chile, als wir den windigen, einsamen Grenzübergang auf 4500 Metern inmitten von Schneeschauern tatsächlich erreicht haben, Eusebio und allen Andengöttern sei Dank.

(Foto: Foto: Joachim Jacobs)

Auf der chilenischen Seite geht es nun mit einem modernen Bus steil den Berg hinunter, auf einer breiten, geteerten Straße mit leuchtenden Linien und Notbremsspuren. Mit einem Fahrer, der innerhalb eines Ortes an jeder Ecke anhält, nach links und rechts schaut und höflich Fußgänger über die Straße winkt. Willkommen in der Zivilisation!

Brummender Touristenort

"Ja, Chile ist in allem besser!" Sergio, der mit uns im Bus sitzt, überschlägt sich fast vor Begeisterung. Das Jahr über arbeitet der etwa 40-jährige Chilene als Spanischlehrer im französischen Lille, in den Sommerferien reist er durch seine Heimat. "Bolivien ist das ärmste, unterentwickeltste Land Südamerikas! In Chile ist alles viel organisierter, europäischer. Alles ist hier besser: die Straßen, das Essen, der Wein - ihr werdet sehen!"

Im Wüstenstädtchen San Pedro de Atacama auf nur noch 2400 Metern prallen wir dann allerdings so hart auf die Zivilisation eines brummenden Touristenortes, dass wir den Wechsel von Kälte zu Wärme, von herber Bergeinsamkeit zu professioneller Geschäftigkeit kaum verkraften.

Ja, es ist schön hier, die Felsformationen der Wüstenlandschaft sind atemberaubend, die Menschen freundlich, die Kellner in den fast durchwegs teuren und vorzüglichen Restaurants bestens geschult.

Doch auf den Straßen von San Pedro ist neben den Touristenhorden kaum ein Einheimischer zu sehen. Die unzähligen Hotels sind in der Hochsaison fast ausgebucht, belegt insbesondere mit italienischen und französischen Gruppen der älteren Mittel- und Oberschicht; mit anspruchsvollen, stylish gekleideten Touristen, die angenervt "bloß nicht schon wieder Lomo" (also Rinderlende) essen wollen.

Da kommt zum ersten Mal - jetzt schon? - wieder Sehnsucht nach Bolivien auf.

Reisetipps: Der Südwesten mit der Salzwüste Uyuni gehört zu den kargsten und beeindruckendsten Landschaften Boliviens. Von Uyuni und Tupiza aus kann man mehrtägige Jeep-Touren buchen. In Chile kann man von San Pedro de Atacama aus zahlreiche Ausflüge in die umgebende Wüstenlandschaft machen, zum Beispiel ins Valle de la Luna. Sehr zu empfehlen ist dort auch der nächtliche Besuch einer Sternwarte, da der Himmel besonders klar ist (www.spaceobs.com).

Hinweis: Die Geschichten dieser Serie wurden im Juli und August recherchiert. Damals war die politische Lage in Bolivien bereits angespannt, jetzt hat sie sich jedoch sehr verschärft. Vor einer Reise empfiehlt es sich daher, die aktuellen Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes zu lesen ( www.auswaertiges-amt.de).

Antje Weber, 40, war zehn Jahre lang Redakteurin der Süddeutschen Zeitung. Seit 2006 lebt sie in Quito in Ecuador und berichtet als freie Autorin aus Südamerika.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: