Gesundheit:Pille oder Pampelmuse

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Obst und Gemüse sind die wahren Anti-Aging-Produkte - gewusst welche!

Obst ist mitunter eine lästige Angelegenheit. Bevor man es essen kann, muss man es schälen und die schlechten Stellen herausschneiden. Tagelang guckt es einen mit seinen Flecken und Druckstellen an und macht einem ein schlechtes Gewissen. Und wenn man es dann endlich essen will, ist es meist auch schon vergammelt. Obst kann - ebenso wie Gemüse - nur schlecht mithalten mit den Errungenschaften des zivilisierten Essens, wie Schokoriegeln und dreieckig vorgeformten Sandwiches aus der Packung.

Pillen und Vitamintabletten - können sie Obst und Gemüse wirklich ersetzen? (Foto: Foto: DPA)

Dem modernen, immer hektischen Menschen ist ein Leben zwischen Instant-Cappuccino, Wiener Schnitzel und Currywurst zweifellos lieber als der tägliche Kampf mit dem Verderblichen. Doch zugleich weiß er: Obst und Gemüse sind die wahren, die einzigen Anti-Aging-Produkte. Sie sind ein gekonntes Potpourri aus dem, was der Mensch braucht, wenn er nicht vorschnell altern und sich auch noch gesund erhalten will. Was er nicht weiß: Warum das so ist. Und das macht es auch so schwierig, den bunten Garten der Natur durch ebenso farbenfrohe, aber doch sehr viel einseitigere Vitaminpillen zu ersetzen. Denn obwohl sich der Mensch schon seit langem damit beschäftigt, was gut für ihn ist, hat er immer noch nicht richtig verstanden, welche Nahrungsbestandteile wirklich das Risiko für bestimmte Krankheiten beeinflussen. Kein Wunder also, dass die Empfehlungen der verschiedenen Expertengremien auseinandergehen - etwa darüber, ob Saft oder Rohkost der bessere Freund des Menschen ist und wie viel Milligramm Vitamin C denn nun das Optimum darstellen. "Die Ernährungswissenschaft ist ein hartes Geschäft", sagt Hans Biesalski, Professor für Ernährungswissenschaft an der Universität Hohenheim. "Wir haben immer noch viel zu wenig harte Daten, und dann ist das Feld auch noch heftig ideologisch umkämpft."

Doch die Ideologie beherrscht nicht nur die Ernährungswissenschaftler. Auch das Volk hängt so manchem Irrglauben darüber nach, was denn wohl am gesündesten sei. Hartnäckig hält sich zum Beispiel der gute Ruf von frischem Spinat, vehement streiten Menschen für biologisch angebaute Äpfel. Ihr Schlagwort in jedem dieser Fälle: die Vitamine. Das Argument, da seien "viele Vitamine drin", kennt selbst im Fleisch verehrenden und gemüsefeindlichen Deutschland schon jedes Schulkind.

Zweifelsohne sind die vierzehn Vitamine ein unersetzlicher Bestandteil der Nahrung. Das zeigt schon der Kunstname, den ihnen 1912 der polnische Chemiker Casimir Funk verlieh. Amin war dabei nur eine Ode an die chemische Beschaffenheit der stickstoffreichen Substanzen, Vita aber stand für das Leben. Denn wenn man auch nur von einer dieser kompliziert aufgebauten chemischen Substanzen, die im Stoffwechsel eine unersetzliche Rolle spielen, längere Zeit zu wenig bekommt, droht der Tod. Erst vor wenigen Monaten starben in Israel Säuglinge, weil in einer koscheren Babynahrung versehentlich zu wenig Vitamin B enthalten war. "Wir wissen, dass wir diese Substanzen brauchen, aber über die genauen Wirkungen der meisten Vitamine im Körper wissen wir kaum etwas", sagt Heiner Boeing vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam- Rehbrücke.

Gemeinsamkeiten zwischen Karotte und Bleistift

Gleichwohl ist es Wissenschaftlern in jüngerer Zeit gelungen, die empfindlichen Substanzen im Körper zumindest zu verfolgen. Lange Zeit wusste man nämlich gar nicht, wie viele Vitamine der Mensch überhaupt aus welcher Nahrung aufnehmen kann. "Die rohe Karotte ist in dieser Hinsicht so nutzlos wie ein Bleistift", sagt Hans Biesalski. Man muss sie zu Saft verarbeiten oder erwärmen, am besten mit etwas Fett, damit sich das wichtige Betacarotin (das im Körper zu Vitamin A wird) aus den bis dato steifen Zellwänden herauslösen lässt. So kann der Körper sich aus einer Portion Karottensalat nur etwa vier Prozent des darin enthaltenen Betacarotins holen. Mit einer Portion Möhrchen- Gemüse kann er dagegen vier Mal so viel anfangen, obwohl beim Garen etwa ein Viertel des Provitamins verloren geht.

Die Karotte ist allerdings eher eine Ausnahme. So kann Vitamin K am besten aus rohem Spinat aufgenommen werden, nicht aus gekochtem. Ohnehin gilt für die meisten Vitamine, dass sie unter dem Kochprozess leiden. Vor allem die wasserlöslichen Vitamine wie Vitamin C und Folsäure werden beim Kochen zerstört oder ins Wasser ausgewaschen. Daher gilt die in Öko-Haushalten oft verpönte Mikrowelle unter Ernährungsexperten als schonende Hitzequelle. Weil die Garzeit kurz ist und das Gerät mit wenig Wasser auskommt, gehen sehr viel weniger Vitamine und auch Mineralstoffe verloren.

Überhaupt haben neue Erkenntnisse mit so einigen Vorurteilen aufgeräumt. Pizza etwa ist viel besser als ihr Ruf. Die gelungene Mischung aus Gemüsen, Fleisch und Käse sorgt dafür, dass viel von dem drin ist, was ein Mensch am Tag zum Leben braucht. In einer Pizza sind mitunter sogar mehr Vitamine enthalten als in einem frischen Salat, wie das Institut Kuhlmann aus Ludwigshafen im Auftrag des Magazins "Focus" herausgefunden hat. Auch Dosentomaten haben einen höheren Vitamingehalt als jene "frischen" Früchte, die im Frühjahr aus Italien nach Deutschland transportiert werden. Denn die Tomaten für die Konserven dürfen unter der südlichen Sonne reifen, während die Früchte, die noch tausend Kilometer im Lkw überstehen müssen, meist unreif gepflückt werden. Wohl aus diesem Grund enthalten frische Tomaten oft deutlich weniger Vitamin E als Dosentomaten. Heimische Tomaten dagegen, die im Sommer zu kaufen sind und zumindest Deutschlands Sonne bis zum Rotwerden genießen dürfen, sind vermutlich wieder besser als ihre in Konservenbüchsen eingepferchten Vettern.

Auch der Spinat aus der Tiefkühltruhe bietet häufig mehr als vermeintlich frischer, der schon lange Stunden in der Wärme des Gemüseregals zugebracht hat. Denn Spinat verliert besonders schnell sein Vitamin C und das B-Vitamin Folsäure. Der Tiefkühlspinat hingegen verschwindet oft schon auf dem Acker in einem Kühltunnel und wird so vor dem Verfall geschützt. Ernüchterung dürfte sich auch nach der Analyse von biologisch angebautem Obst und Gemüse unter dessen Freunden breit machen. Denn Bio-Früchte sind keineswegs vitaminreicher als herkömmlich auf konventionellen Plantagen produzierte. "Wegen des Vitamingehalts lohnt es sich nicht, Bio-Gemüse zu essen", bestätigt der Ernährungswissenschaftler Boeing. "Es sollte eher eine Frage der geschmacklichen und ökologischen Präferenz sein als eine des Vitamingehalts."

Pommes frites als Vitamin-C-Lieferanten

Angesichts all dieser Vitamin-Irrtümer sieht man also schon: Nur auf den Vitamingehalt zu achten, hat wenig Sinn. Schließlich enthalten sogar Pommes frites häufig mehr Vitamin C als gedämpfte Frühkartoffeln. Das liegt unter anderem daran, dass die frischen Herbstkartoffeln, welche Pommes-frites-Hersteller bevorzugt verarbeiten, vitaminreicher sind als Frühkartoffeln oder lange gelagerte Erdäpfel. Das ändert aber nichts daran, dass die Kartoffelschnitze auf dem Teller reicher an - noch dazu meist minderwertigem - Fett sind und vor allem an Krebs erregendem Acrylamid.

Die zahlreichen Aspekte bei der Ernährung lassen sich kaum gegeneinander abwägen. "Am besten ist es, so bunt wie es irgend geht zu essen", sagt Hans Biesalski. "Jedes Gemüse sollte man in allen Formen zu sich nehmen - mal als Saft, als Püree, mal gebraten." Auch Heiner Boeing findet, es sei die "vollkommen falsche Diskussion, über den Vitamingehalt von tiefgekühltem Gemüse oder frischem und eingedostem Obst zu philosophieren". "Esst doch beides", sagt er.

"Vitamine sind nicht das einzige", betont Biesalski. "Der Wert einer gesunden Ernährung liegt auch in zehntausend anderen Substanzen." Welche das aber sind, sei nach wie vor unbekannt - auch wenn in den vergangenen Jahren immer mehr Moleküle in Lebensmitteln ent- deckt wurden, die uns offenbar gut tun: die sekundären Pflanzenstoffe. Zitronen und Grapefruits beispielsweise speichern neben beachtlichen Mengen an Vitamin C auch so genannte Terpene und Limonoide, von denen man annimmt, dass sie Krebs vorbeugen. Auch Farbstoffe - wie Lycopin aus der Tomate oder Betacarotin aus der Karotte - könnten Krebszellen bekämpfen, wie Wissenschaftler schon seit langem vermuten. Denn ähnlich wie die Vitamine C und E sind diese Substanzen so genannte Radikalfänger.

Während des Stoffwechsels entstehen im Körper immer wieder Stoffe, die chemisch sehr aktiv sind und gleichsam "radikal" mit allem reagieren, was ihnen in den Weg kommt - auch mit dem menschlichen Erbgut, das sie auf diesem Wege schädigen und dabei Krebs auslösen können. Die Vitamine aber und die sekundären Pflanzenstoffe fangen diese Radikale ab. Deshalb lässt sich zum Beispiel ein Apfel einfach nicht durch Vitaminpillen ersetzen. Das zeigten New Yorker Wissenschaftler vor wenigen Jahren noch einmal in einem Laborversuch. Sie beträufelten Krebszellen in der Kulturschale mit Apfelextrakten und stellten fest: Diese hemmten das Wachstum der Krebszellen wesentlich stärker als die entsprechende Menge Vitamin C allein.

Findige Hersteller von Vitaminpräparaten und Nahrungsergänzungsmitteln bieten deshalb auch die sekundären Pflanzenstoffe bereits in Tablettenform an. Seit Ende der 90er-Jahre finden sich in den Regalen von Drogerien, Reformhäusern und inzwischen auch von Supermärkten Carotintabletten, Pillen mit Grapefruitextrakt und dunkelrote Rotweinkapseln, die Knoblauchdragees sind ohnehin schon seit langem bekannt. Der Markt für Nahrungsergänzungsmittel wächst in Deutschland seit Jahren unaufhörlich. Rund eine Milliarde Euro Umsatz machen die Hersteller inzwischen pro Jahr.

Beipackzettel für Orangen und Artischocken

Zweifelsohne erscheinen die Tabletten verführerisch. Schließlich sind sie problemlos bis 2009 haltbar, und man muss sie nicht einmal kauen. Faszinierend die Vorstellung, dass man sich mit einer Pille pro Tag Gaumenfreiheit erkaufen kann. Doch die Idee vom Obst-Ersatz in Kapselform stößt schnell an Grenzen. "Für mangelernährte Menschen ist das bestimmt sinnvoll", sagt der Ernährungsmediziner Hans Biesalski. Und dazu gehören, wie eine Untersuchung der EU in mehreren europäischen Ländern ergeben hat, 40 Prozent der Senioren über 65 Jahre. Sie leiden auf Grund fehlender Mobilität und schlechter Heimkost häufig unter Vitamindefizit. Aber auch junge Mädchen gehörten oft zur Gruppe der Mangelernährten - "der ständigen Diäten wegen". "Mit Vitamintabletten kann man aber immer nur ein Loch im Reifen flicken", betont Hans Biesalski. Wer sich schlecht ernährt, dem helfen die Pillen nicht zu einer guten Gesundheit. Denn letztlich, betont Biesalski, seien Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel trotz der umfangreichen Zutatenliste immer noch zu einseitig. Auch wenn die Liste der Inhaltsstoffe noch so lang ist: Die Beipackzettel für Orangen oder Artischocken wären, so es welche gäbe, um ein Vielfaches länger.

Ohnehin leidet der Durchschnitts-Deutsche trotz Fast Food und Kantinenhetze nicht unter akutem Nährstoffmangel. "Er ist mit vielen Nährstoffen gut versorgt, wie der neueste Bericht des Robert- Koch-Instituts wieder gezeigt hat", betont Heiner Boeing. "Lediglich an Vitamin D, Jod und Folsäure mangelt es." Gerade aber von Vitamin C, das viele Zeitgenossen besonders gerne in Tablettenform zu sich nehmen, essen die Menschen hier zu Lande ohnehin zwei bis drei Mal so viel wie nötig. Dabei sind zu hohe Vitaminmengen sogar ungesund. So können laut Robert- Koch-Institut die Vitamine A und D schädlich sein, wenn mehr als das Dreifache der empfohlenen Tagesdosis davon aufgenommen wird. "Bei allen fettlöslichen Vitaminen ist die Distanz zwischen der therapeutischen und der toxischen Dosis klein, weil sie nicht so schnell ausgeschieden werden und lange im Körper verbleiben", warnt Boeing. Aber selbst das wasserlösliche Vitamin C überfordert in exzessiven Mengen die Nieren und fördert (wenn gleichzeitig Kalzium aufgenommen wird) die Bildung von Nierensteinen. "Die erlaubten Dosierungen in frei verkäuflichen Multivitamintabletten und Nahrungsergänzungsmitteln sind in Deutschland deshalb begrenzt", sagt Roland Bitsch vom Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Jena. In den USA führen die in Supermärkten erhältlichen Pillen und Pulver mitunter sogar zu erheblichen Gesundheitsrisiken. Etwa jeder zwanzigste Anruf bei US-amerikanischen Giftnotrufzentralen geht auf eine Vergiftung mit Nahrungsergänzungsmitteln (Appetitzügler und Muntermacher eingeschlossen) zurück, wie ein internationales Wissenschaftlerteam im vergangenen Jahr in der renommierten Fachzeitschrift "The Lancet" warnte. Für die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ist das Fazit eindeutig. Sowohl Multivitaminpillen als auch Kapseln mit sekundären Pflanzenstoffen sind "keine Alternative zum täglichen Verzehr von Obst und Gemüse". Sie wirbt seit Jahren unter dem Motto "Fünf am Tag" und meint damit, dass jeder Mensch fünf Mal täglich Obst oder Gemüse zu sich nehmen sollte, um gesund zu bleiben. Noch sind die Deutschen allerdings weit entfernt von dieser Traumlösung. Noch immer essen sie gerade mal halb so viel Pflanzenkost wie Franzosen und Italiener.

Es ist unbestritten, dass Obst und Gemüse gut für die Gesundheit sind, aber über ihre Wirkung bei bestimmten Krankheiten weiß man nur wenig. "Mit einzelnen Vitaminen und Nährstoffen können wir das Krankheitsrisiko nicht beeinflussen", betont Heiner Boeing. Zwar werden immer wieder Stars wie das Lycopin aus Tomaten und die Luteine aus Paprikaschoten als Schützer vor einzelnen Krankheiten wie Prostatakrebs diskutiert. "Es gibt aber keine einzige Studie, die das zweifelsfrei zeigt." Mittlerweile sei vielmehr deutlich geworden, dass Obst und Gemüse bei hormonabhängigen Tumoren wie jenen von Brust und Prostata keine Rolle spielen, betont der Ernährungswissenschaftler. Das habe ein neuer Bericht ergeben, den kürzlich ein Expertengremium der Internationalen Krebsforschungsagentur der WHO in Lyon vorgestellt hat. "Vor Tumoren des Verdauungstrakts und des Atemsystems wie Darmkrebs und Magenkarzinom können Obst und Gemüse dagegen offenbar schützen." Erwiesen ist derzeit vor allem, dass Obst und Gemüse zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen taugen. Aber welche Pflanzenfrüchte können das - und vor allem welche Stoffe in ihnen? Multivitamintabletten jedenfalls konnten noch in keiner Studie etwas gegen irgendeine Krankheit ausrichten (nicht einmal gegen Erkältungen, gegen die viele Menschen sie täglich schlucken).

Außer der Liebe zu Obst und Gemüse mögen die Ernährungsforscher dem modernen Menschen deshalb nichts mitgeben. "Manchmal kann ich das Sprüchlein von der gesunden Ernährung nicht mehr hören", klagt Biesalski sogar. "Unsere Lebensweise steht der idealen Ernährung nun einmal im Weg." Wer Pilze nur auf der Pizza und Rosenkohl nur in halb verkochtem Zustand mag, der soll dies lieber so essen, als es fortan wegen zu hoch gesteckter Ziele ganz zu verschmähen. "Hauptsache, die Menschen essen überhaupt Obst und Gemüse", sagt der Ernährungswissenschaftler. "Selbst die Tomaten im Ketchup sind besser als nichts."

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