Ende der Reise:Herdentiere unterwegs

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In Barcelona will die Bürgermeisterin keine neuen Hotels und Ferienwohnungen. Die Bewohner applaudieren. Ähnlich ist die Stimmung in Rom, in Berlin, in Lissabon, in Venedig. Hilft da etwa nur noch der aus London bekannte Olympia-Effekt?

Von Stefan Fischer

Die Lage ist außer Kontrolle geraten. Das sagt die Frau, die dafür verantwortlich ist, dass die Dinge gerade nicht außer Kontrolle geraten. Sie heißt Ada Colau und ist Bürgermeisterin von Barcelona. Gerade hat sie angeregt, einen wichtigen Wirtschaftszweig der Stadt abzuwürgen - den Tourismus. Sie möchte weder neue Hotels noch neue Ferienwohnungen. Und bekommt dafür Applaus von den Bewohnern der Stadt! Denn Barcelona ist dabei, am eigenen Erfolg zugrunde zu gehen. Das Ausmaß des Tourismus überfordert die Bewohner längst. Mit den Olympischen Spielen 1992 hat Barcelona sein Image neu erfunden. Seither reist die Jugend der Welt jeden Sommer an, nur betreibt sie längst andere Sportarten als damals etwa der 5000-Meter-Läufer Dieter Baumann. Kampfsaufen, Wettgrölen, Teampinkeln, darin messen sich die Besucher. Im Grunde müsste Barcelona wieder Olympische Spiele veranstalten, denn das Beispiel London hat 2012 gezeigt: Wenn alle glauben, dass alle nach London kommen, kommt letztlich keiner. Weil alle glauben, dass es viel zu voll wird. Aber man kann ja nicht alle zwei Jahre Olympische Sommer- oder Winterspiele ausrichten, nur um die Folgen just dieser Spiele im Zaum zu halten.

Ähnlich ist die Stimmung in Rom, in Lissabon, in Venedig. Und in Berlin sowieso. Weil der Berliner immer etwas zu meckern hat. Aber das sagt sich leicht, wenn man selbst nicht in einem Haus im Wrangelkiez lebt, in dem alle übrigen Wohnungen allnächtlich über Online-Plattformen an Feierbiester vermietet werden. Venedig ist gerüchteweise dabei, nicht nur Kreuzfahrtschiffen die Einfahrt in die Lagune zu untersagen, sondern auch Rollkoffer zu verbieten, da der Lärm, den sie im Chor erzeugen, ähnlich erschütternde Wirkung habe wie die Dieselgeneratoren. Die Römer sind die vielen Touristenbusse im Zentrum leid und das viele schlechte, überteuerte Essen. Zumal beides ganz offensichtlich nicht einmal abschreckend wirkt. Die vielen Touristen sind den Touristen immer noch nicht unerträglich viele.

Einen Ausweg hat der Tourismuschef Lissabons erkannt: Es gäbe noch Potenzial für Steigerungen, beharrt er trotz aller Proteste. Er spekuliert wohl auf den Olympia-Effekt: Wenn tatsächlich alle glauben, dass alle in Lissabon sind . . . Die Alternative wäre ein Zuteilungs- und Bewilligungssystem wie in der DDR. Mancher, der nach Barcelona möchte, müsste, da er es freiwillig nicht tut, zwangsweise mit Bukarest vorliebnehmen. Als Herdentier aber bleibt dem Touristen nur die Wahl zwischen Sozialismus und Turbokapitalismus.

© SZ vom 25.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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