Ende der Reise:Chat und weg

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Ein Mann sitzt auf einer Alm, ist über seinen Laptop jedoch in Bild und Ton auf einem Werbebildschirm im Zürcher Hauptbahnhof präsent. Er grüßt die Passagiere - und schenkt ihnen Fahrkarten. Die Idee hat Potential.

Von Stefan Fischer

Es soll in der Frühzeit des Fernsehens Menschen gegeben haben, die penibel darauf achteten, stets akkurat gekleidet vor dem Apparat zu sitzen, speziell wenn die "Tagesschau" lief. Denn so genau konnte man nicht wissen, ob einen der zwar freundliche, aber dennoch gestrenge Karl-Heinz Köpcke nicht doch würde sehen können, so wie man ihn ja auch sah. Und was würde das für einen Eindruck machen von der eigenen Ernsthaftigkeit, wenn man dem Weltgeschehen nicht in Hemd und Krawatte folgte? Nun, Karl-Heinz Köpcke konnte definitiv nicht in die Wohnzimmer von uns Hempels blicken. Derlei Überwachung ist erst in unserer digitalen Gegenwart möglich. Das macht sich ein älterer Herr aus Vrin in Graubünden zunutze. Und da er sich dieser Möglichkeiten nicht auf so klandestine Weise bedient wie all die NSA-Agenten und ihresgleichen, sondern für alle offensichtlich; und weil er obendrein die Menschen nimmt, wie sie sind, ob mit oder ohne Krawatte, ob akkurat frisiert oder nicht, ist dagegen auch nichts einzuwenden. Sieht man davon ab, dass er manche Passanten gehörig in ihrer Schreckhaftigkeit erwischt.

Der Mann sitzt auf einer Alm, ist über seinen Laptop jedoch in Bild und Ton auf einem Werbebildschirm im Zürcher Hauptbahnhof präsent - und kann die Bahnhofshalle selbst auch überblicken. Er grüßt die Passagiere, versucht, ins Gespräch mit ihnen zu kommen - und schenkt ihnen Fahrkarten nach Vrin, denn der Bildschirm ist zugleich ein Ticketautomat. Mit dieser Marketingkampagne aus Graubünden sollen die Menschen vom hektischsten Ort der Schweiz an den ruhigsten gelockt werden. Manchmal jodelt der Alte sogar.

Noch ist das leider keine dauerhafte Einrichtung, die Aktion der Graubündner war vorerst einmalig. Aber das Potenzial der Idee ist immens. Alsbald werden selbst wir Pauschalreisende auf die ohnehin mageren Frühbucherrabatte pfeifen, wir werden einfach zu den Bahnhöfen und Flughäfen fahren und uns spontan zu einer Reise entscheiden, je nachdem, wo das Wetter im Livestream am besten und der Öhi respektive südländische Kellner am charmantesten chattet. Und wenn das Bahnpersonal oder die Piloten mal wieder streiken, brechen wir eben drei Wochen später auf.

© SZ vom 09.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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