Ende der Reise:Achterbahn mit Glühwein

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Die virtuelle Realität ist ein Widerspruch in sich selbst, hat aber ihre Vorteile, wie ein Besuch am Innsbrucker Christkindlmarkt zeigt.

Von Dominik Prantl

Heutzutage kann ja kein Mensch mehr etwas für sich behalten; es wird alles sofort geshart, also geteilt. Das klingt so schön romantisch, ein bisschen nach dem Heiligen Martin, der damals seinen Mantel mal schnell per sozialem Schwerthieb geshart hat, um einen Bettler einzukleiden. Aber in der Reiseindustrie ist nichts mit Martin, Mantel und Schwert. Dort geht es in den sozialen Medien ganz knallhart um Follower, Comments und Likes, die neuen Währungen des Internets: Die schöne, im Wald versteckte Unterkunft, die neuerdings nicht mehr Hotel heißt, sondern Hideaway, läuft deshalb sofort über Facebook und wird dort von zu vielen Freunden mit dem Daumen-hoch-Button geadelt. Der einst als Geheimtipp verheimlichte Bergsee bringt auf Instagram gleich 17 neue Abonnenten und das zur Lounge verhunzte Café im Lieblingsskiort hat schon 263 Kommentare.

Wenn man gerade nichts zu sharen hat und sich deshalb in der echten Welt irgendwie entsozialisiert fühlt, bleibt immer noch die virtuelle Realität, kurz VR. Die virtuelle Realität ist natürlich ein Widerspruch in sich selbst, so etwas wie ein schwarzer Schimmel oder ein analoger Twitter-Account, hat aber ihre Vorteile. Um sie zu erfahren, braucht es eine spezielle Videobrille. Dadurch nimmt man zwar die Realität außenrum nicht mehr wahr, kann dafür aber Dinge erproben, die wegen des Gefahrenpotenzials für sich selbst oder andere sonst nur Profis vorbehalten bleiben. Panzer fahren zum Beispiel, Herzen operieren oder in einer Kutsche auf einem Christkindlmarkt Achterbahn fahren.

Letzteres ist auf dem Innsbrucker Marktplatz möglich, wobei man sich fragen muss, was eigentlich genau die Attraktion ist. Am vergangenen Samstag jedenfalls saßen zwei Damen mittleren Alters in der Kutsche, auf der Nase die Simulationsbrillen, neben ihnen ein Bildschirm, auf dem Passanten verfolgen konnten, was die Passagiere in ihren Brillen sahen. Auf den Bildschirm achtete aber niemand; jeder achtete auf die zwei Damen. Die warfen sich nach links und rechts wie in einer Achterbahn, obwohl die Kutsche ganz still stand. Die eine kicherte still, die andere lachte laut und lange und ansteckend. Irgendwann standen die Menschen mit ihren Glühweinen in Fünferreihen um die Kutsche herum, sie teilten das laute Lachen, ganz ohne VR-Brille oder Instagram, so schön war das, und wäre die Dame ein Facebook-Profil; wir würden ihr sofort die Freundschaft anbieten.

© SZ vom 30.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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